Ein Interview mit ZEIT

In der vergangenen Woche durfte ich Martin Machowecz und Cathrin Gilbert von der ZEIT ein Interview zu Clubhouse, CandyCrush, der aktuellen Situation und MPKs geben. Die letzte Zeit hat mir wieder einmal bestätigt, dass Erregungskurven aus dem politischen Tagesgeschäft nicht wegzudenken sind. Sich darüber zu beschweren, wäre ebenso realitätsfern wie zwecklos. Dennoch scheint es mir notwendig – auch, weil es einige Tage lang kein anderes Gesprächsthema zu geben schien – diese ganze Debatte noch einmal vor ihrem größeren Horizont einzuordnen. Der ist und bleibt COVID19 und eine Gesellschaft, die nach beinahe einem Jahr Virus massiv unter Stress steht.
Ich danke Herrn Machowecz und der ZEIT ausdrücklich, dass sie mir eine Veröffentlichung des Interviews erlaubten. Das Original findet sich unter: https://www.zeit.de/2021/05/bodo-ramelow-thueringen-ministerpraesident-clubhouse-candy-crush

DIE ZEIT: Herr Ramelow, Sie haben im sozialen Netzwerk Clubhouse davon berichtet, in der Ministerpräsidentenkonferenz (MPK), dem entscheidenden Gremium der Corona-Zeit, mitunter Candy Crush auf dem Handy zu spielen, eine Art digitales Puzzlespiel. Können Sie verstehen, dass das viele Menschen empörend fanden?

Bodo Ramelow: Ich kann die Empörung verstehen, wenn man nur die veröffentlichte Meinung der vergangenen Tage betrachtet. Da wird in einigen Medien das Bild erzeugt, ich würde auf der MPK nicht zuhören, säße nur da und zockte. Als wäre ich verantwortungs- und empathielos und würde mich um die Toten nicht scheren. Das Gegenteil ist der Fall. Corona bereitet mir schlaflose Nächte.

ZEIT: Nur haben Sie locker ausgeplaudert, dass Sie in einer Sitzung zehn Level Candy Crush schaffen. In der MPK werden tiefgreifende Grundrechtseinschnitte beschlossen. Muss ein Regierungschef da nicht in jedem Moment bei der Sache sein?

Ramelow: Wenn wir als Ministerpräsidenten über zehn Stunden mit der Kanzlerin zusammensitzen, wechseln sich Phasen höchster Anspannung ab mit Phasen, in denen man kurz Zerstreuung sucht. Es gibt immer wieder längere Unterbrechungen. Das sind Momente, in denen manche Kollegen die Post machen. Andere rauchen eine Zigarette oder laufen über den Gang. Ich spiele auf dem Handy. Und bin da bestimmt nicht der Einzige. Du musst bei Beschlüssen hellwach sein. Oder wenn Textpassagen gemeinsam bearbeitet werden. Ich gehöre nun wirklich nicht zu denen, die sich in der MPK selten zu Wort melden würden.

ZEIT: Warum haben Sie Ihre Methode der Zerstreuung nicht für sich behalten? Ist Ihnen das so herausgerutscht?

Ramelow: Ich habe keinen Grund gesehen, es zu verheimlichen. Der Spiegel hat vor einigen Wochen berichtet, dass es in den MPKs jemanden gebe, der nebenbei Candy Crush spielt. Ich wurde bei Clubhouse gefragt, ob das wahr sei. Also antwortete ich: „Ja, das stimmt! Ich bin derjenige, der es tut!“ Das hatte ich bereits im Stadtfernsehen von Gotha erzählt. Jetzt wird so getan, als hätte ich gedacht, es höre niemand zu. Aber das stimmt nicht. Ich wusste, dass wir in einem öffentlichen Raum sind.

ZEIT: Clubhouse ist elitär – man muss eingeladen werden, um mitmachen zu können. Das führt dazu, dass Journalisten und Politiker noch weitgehend unter sich sind. Es wird eine Atmosphäre vermittelt wie in der Hotelbar, nur mit Publikum. Sind Sie in eine Falle vorgegaukelter Vertrautheit getappt?

Ramelow: Es entsteht eine Atmosphäre der Vertrautheit, ja, und die ist verführerisch. Aber ich bin nirgends hineingetappt. Mich hat das gerade begeistert! Da waren viele junge Menschen. Manuela Schwesig war ja auch dabei. Ich habe zu keiner Sekunde vergessen, dass das öffentlich ist.

ZEIT: Sie nannten die Kanzlerin „das Merkelchen“.

Ramelow: Ich bereue diese Formulierung sehr. Aber darf ich das wenigstens kurz erklären? Es war so: Paul Ronzheimer …

ZEIT: … der Vize-Chefredakteur der Bild, der ebenfalls am Clubhouse-Abend teilnahm …

Ramelow: Er regte an: Haltet doch in Zukunft die MPK auf Clubhouse ab! Wenn doch ohnehin alles an Bild durchsickert. Das hat mich geärgert, ich fand das unanständig und habe spontan und sinngemäß geantwortet: Ja, klar, und dann kommt das Merkelchen auf die Bühne. Eigentlich meinte ich: Wir sind doch keine Darsteller, das ist doch keine Show! Ich hätte von Ramelowchen oder Söderchen oder Kretschmännchen sprechen sollen. Stattdessen habe ich von einer Frau gesprochen. Das war dumm und wirkte despektierlich.

ZEIT: Machtgehabe.

Ramelow: Stimmt. Dadurch habe ich männliches Machtgehabe an den Tag gelegt, ohne es zu merken. Ich wollte Frau Merkel nicht angreifen und sie nicht herabsetzen, aber ich habe es getan. Ich habe mich bei der Bundeskanzlerin inzwischen persönlich entschuldigt.

ZEIT: Hat sie Ihnen das abgenommen?

Ramelow: Das will ich hier nicht ausbreiten. Meine Wertschätzung ihr gegenüber ist groß. Deshalb tut mir dieses Wort leid.

ZEIT: Wollten Sie den jungen Zuhörern gefallen?

Ramelow: Nein. Ich bin, wie ich bin. Ich habe mich so verhalten, wie ich mich auf einer Veranstaltung verhalte, die von jungen Leuten moderiert wird. Vielleicht erfordert Clubhouse einen anderen Umgang. Twitter, Facebook, TikTok haben unsere Kommunikation schon grundlegend verändert. Jetzt bringt Clubhouse Tausende in eine gemeinsame Live-Situation. Ich habe Lehrgeld bezahlt.
ZEIT: Bereuen Sie, dort mitgemacht zu haben?

Ramelow: Ach, ich bin für diese App nun beides: Werbe- und Warnschild. Die Nutzungskompetenz wird künftig in der Einheit Ramelow gemessen. Der Freitagabend war ein Null-Ramelow. Aber ich wollte eben diesen Versuch wahrnehmen, unter Leute zu kommen.

ZEIT: Weil das in der Pandemie schwer ist?

Ramelow: Ja, auch, warum denn nicht.

ZEIT: Kann es sein, dass Instinktpolitikern wie Ihnen in der Corona-Zeit etwas fehlt?

Ramelow: Menschen! Draußen sein bei den Leuten, das ist das, was mich immer prägt. Im Arbeitskampf mittendrin stehen, keinem Konflikt ausweichen. Ja. Menschen fehlen mir.

ZEIT: Verliert man ein bisschen das Gefühl für die Schwingungen in der Gesellschaft? Versucht man, sich das in den sozialen Medien zurückzuholen?

Ramelow: All die Videokonferenzen ersetzen nicht den menschlichen Kontakt. Wir befinden uns durch das Virus in einer Lage, die kreuzgefährlich für alles ist, was wir kennen. Wir haben es mit riesigen Fragen zu tun. Aber ich kann sie im Moment nicht in Versammlungen thematisieren. Ich kann kaum Leute treffen. Nicht die, die eigentlich Kirmeszelte aufstellen und nun zu Hause sitzen. Nicht den Mitarbeiter von Amazon, der um seinen Tarifvertrag kämpft, und nicht die vielen Paketboten und Lkw-Fahrer, die manchmal wie Sklaven behandelt werden. Meine tiefgreifende Lebenserfahrung als Protestant ist: Wenn du evangelisch bist, bist du immer traurig. Ein Katholik kann beichten gehen, dann geht es ihm besser. In der Corona-Zeit Protestant zu sein ist noch schwerer als sonst.

ZEIT: Was macht diese Zeit mit dem Protestanten und Politiker Ramelow?

Ramelow: Ich merke meinem Körper das Übermaß an Stress genau an. Man sagt manchmal so daher, Druck gehe unter die Haut. Bei mir ist das wörtlich zu nehmen.

ZEIT: Wie meinen Sie das?

Ramelow: Ich leide seit meiner Kindheit bei Stress unter extrem trockener Haut und Ekzemen. Über Jahre blieb ich davon verschont. Jetzt geht es wieder los, weil es diese innere Spannung gibt. Ich habe seit elf Monaten keine wirkliche Erholungsphase gehabt. Keiner von uns hatte das. Der Gastronom, der Friseur, dem ich zweimal seinen Laden zugemacht habe, ist mir nicht einerlei. Da wird mir anders.

ZEIT: Manche meinen, Sie seien zuletzt wieder der Bodo Ramelow aus jüngeren Jahren: lauter, polternder, unbeherrschter.

Ramelow: Dieses Getratsche bin ich gewohnt. Ja, ich werde laut, wenn ich das Gefühl habe, dass eine Sache in die völlig falsche Richtung läuft. Aber ich bin fast 65. Eine Wahrheit kann ich Ihnen sagen.

ZEIT: Welche?

Ramelow: Ich bin Legastheniker. Ich war 18 Jahre meines Lebens damit beschäftigt, gemachte Fehler zu verstecken. Ich habe in dieser Zeit gelernt, jeden Schreibfehler und die damit verbundenen Probleme zu verstecken. Heute verstecke ich mich nicht mehr. Ich lasse mich nicht mehr von jedem maßregeln und werde mich auch für die Politik nicht mehr verstellen. Korrigieren lasse ich mich von meiner Frau.

ZEIT: Sorgt sich Ihre Frau um Sie?

Ramelow: Meine Frau leidet unter den gleichen Sorgen. Ihre Mutter in Italien, mitten in der Pandemie – und mein Job hier. Da ist sie schon besorgt, aber sie ist Supervisorin und in der Lage, mit mir umzugehen. Es kann vorkommen, dass sie mich auf die Couch legt und sagt: So. Jetzt mal ruhig! Wir erleben die Bedrohung, den Stress ja beide. In den vergangenen Tagen hat meine Frau sogar ihr Twitter-Profil gelöscht, weil die für mich gedachten Beschimpfungen auf einmal auch bei ihr landeten, ihr einfach zu heftig wurden. Das war Hass! Purer Hass.

ZEIT: Hat Ihre Frau Sie am Wochenende gebeten: Mensch, Bodo, lass das sein mit dem Clubhouse?

Ramelow: Na ja, am Samstagmorgen habe ich ihr ja noch voller Enthusiasmus von der neuen App berichtet. Am Sonntagabend kontrollierte sie, ob ich auch wirklich Tatort gucke. Ich musste dann versprechen: erst mal kein Clubhouse mehr. Aber der Hass begann ja lange vorher. Einmal gab es einen Aufruf von Corona-Leugnern, Grabkerzen vor unserer Privatwohnung in Erfurt abzustellen. Wir empfangen unangenehme Briefe, die an meine Frau adressiert werden. Die landen mitunter beim LKA.

ZEIT: Haben Sie Angst?

Ramelow: Ich bin da eher abgebrüht. Ich lasse mich nicht beschimpfen. Aber warum unsere Nachbarn und die Menschen, die im Haus wohnen, da mit reingezogen werden, ist einfach nicht zu verstehen. Es ist in dieser Pandemie ohnehin so, dass jeder meint, alles zu wissen. Die einen glauben nicht an das Virus, die anderen würden am liebsten die ganze Wirtschaft herunterfahren.

ZEIT: Ist dieser Druck ein Grund dafür, dass Sie, aber auch andere Ministerpräsidenten sprunghaft wirken? Im Frühjahr waren Sie scharfer Mahner. Im Sommer wollten Sie sehr lockern. Im Oktober zögerten Sie mit dem Lockdown, wofür Sie sich schon entschuldigt haben, dann wollten Sie Härte.

Ramelow: Aber ich habe mich doch immer an Zahlen, an Daten und Fakten orientiert! Im Frühjahr war ich geprägt von den Ereignissen in Bergamo. Meine Frau ist Italienerin, wie gesagt. Im Sommer hatten wir in Thüringen keine erste Welle. Da kann ich keine Firmen schließen. Dann überraschte uns der rasante Anstieg.

ZEIT: Redet die MPK zu viel, statt zu entscheiden?

Ramelow: Im Gegenteil. Sie zeigt, dass wir in Deutschland handlungsfähig sind. Ich bin froh über die gemeinsamen Vereinbarungen – bei allen Schwächen. Wir Ministerpräsidenten haben eine gute Solidarität untereinander. Was aufhören muss, ist das ganze Geraune um die MPK-Sitzungen.

ZEIT: Was meinen Sie?

Ramelow: Das große Spekulieren. Vor der Sitzung wird Getöse gemacht, was wohl diesmal vorkommt, aus der Sitzung wird live berichtet, wie es läuft. Danach wird sofort wieder berichtet, wer von den Ministerpräsidenten von welcher Linie abweicht.

ZEIT: Wieso entsteht der Eindruck: Die Kanzlerin mahnt und mahnt, die Ministerpräsidenten aber ringen sich nicht zu konsequentem Handeln durch?

Ramelow: Das ist die Geschichte, die das Kanzleramt gerne hört, die mancher in Berlin vielleicht auch befeuern will. Wenn wir dienstags MPK haben, erfahren die Medien sonntags Dinge, über die ich montags noch nicht mal unterrichtet werde.

ZEIT: Die einen spielen Candy Crush, die anderen stechen Dokumente durch?

Ramelow: Ich steche nichts durch. Einmal simste mir sogar ein Bild-Redakteur in die Sitzung: „Sie hatten gerade einen starken Auftritt. Möchten Sie bei uns dazu live Stellung beziehen?“ Ich habe dann in der MPK seine Nachrichten vorgelesen – und bekam direkt eine empörte SMS: Es sei unanständig, dass ich seine Nachrichten vorlesen würde! Jemand hatte ihn auf dem Laufenden gehalten. Im Vergleich dazu finde ich Candy Crush oder Sudoku als Gehirnjogging eher harmlos.