Zwischenruf zu moralischen Zeigefingern – ein Gastbeitrag von Torsten Weil

Da ich privat kein iphone nutze, habe ich noch nicht einmal theoretisch die Chance, eine Einladung zum neuesten Social Media Hit – Clubhouse – zu erhalten. Mensch mag mir daher nachsehen, dass ich vollkommen ahnungslos bin, was da passiert, wie Debatten dort ablaufen, was zu beachten ist und wie die Netiquette dort funktioniert.

Nun haben die ersten Politiker*innen den Weg ins #Clubhouse gefunden und stellen sich den Gesprächen/Debatten dort. Ich war überhaupt nicht verwundert, dass Bodo Ramelow zu den ersten Akteur*innen aus dem politischen Raum gehörte, die sich auch in dieses Medium trauen. Schon lange nutzt er Medien wie Facebook und Twitter für den direkten Diskurs und scheut dabei auch nicht die Konfrontation und das direkte Wort. Oft genug wird von Politiker*innen gefordert, dass sie sich der Debatte stellen und was immer man Bodo Ramelow vorwerfen mag, er gehört zu denen, die genau solchen Debatten nie aus dem Weg gehen und das im Übrigen auch keineswegs nur im virtuellen Raum.

Schon oft ist beschrieben worden, wie direkt Bodo Ramelow auf Menschen zugeht, durchaus emotional aber immer mit viel Faktenkenntnis. Im Netz lassen sich eine Reihe solcher Diskussionen finden. Stefan Locke oder auch Martin Debes haben bereits darüber geschrieben und viele Menschen inThüringen – und nicht nur dort – schätzen genau diese Eigenschaft. Kein Politsprech, sondern das klare Ansagen. Dann kann es auch mal lauter werden, aber Bodo Ramelow gehört auch zu den Menschen, die in der Lage sind, sich selbst zu reflektieren und Fehleinschätzungen einzugestehen. Letzteres konnten wir alle gerade erleben, als er zugab sich geirrt zu haben, bei der Einschätzung der Pandemielage im Herbst.

Und nun diskutieren wir die Frage, ob es legitim ist, während einer Konferenz der Ministerpräsident*innen Candy Crush zu spielen. Dass Bodo Ramelow eine Affinität zu Candy Crush hat, ist wahrlich keine Neuigkeit. Auf Youtube lässt sich auch dazu ein Clip finden.

Wie gesagt, ich habe die Debatte nicht verfolgen können aber ich habe lange sehr eng mit Bodo Ramelow zusammenarbeiten dürfen und erlaube mir von daher eine Meinung dazu. Jede Menge moralische Zeigefinger werden gerade im Moment erhoben: Da wird über Menschenleben geredet und verhandelt, über Schicksale und Herr Ramelow daddelt… oder ähnliches.

Wer von all diesen Kommentator*innen hat sich eigentlich vorher mal selbst reflektiert?

Was ich gut einschätzen kann, ist, dass die Ministerpräsident*innen übervolle Terminkalender haben und Stunden in Sitzungen oder auch im Auto verbringen. Es ist eine große Herausforderung bei all diesen Terminen hoch konzentriert und aufmerksam zu sein und ich habe als Begleiter bei solchen Terminen durchaus an mir selbst feststellen müssen, wie ich abschaltete oder unaufmerksam war. Etwas, was sich ein MP nicht oder nur sehr selten erlauben kann, denn er steht immer im Fokus, alle blicken auf ihn. Bei Diskussionen und Gesprächen ist es deshalb ein Prinzip von Bodo Ramelow, sein Telefon wegzulegen, gerade, um nicht abgelenkt zu werden.

Und ja, man sitzt oft lange in Beratungen, wo nicht jeder Beitrag gleich spannend ist, wo oft viel Textarbeit geleistet wird, wo es viel Leerlauf gibt und wo es oft auch wichtig ist, die eigene Aufmerksamkeit oben zu halten. Die einen trinken einen Kaffee nach dem anderen, andere müssen oft zum Rauchen raus, andere lesen nebenbei und einige daddeln auch mal. Das heißt aber überhaupt nicht, dass sie nicht in der Lage wären, den Debatten zu folgen. Ich empfehle allen Moralist*innen, sich auf einen Versuch mit Bodo Ramelow einzulassen. Ich bin sicher, dass er den Ablauf der MPK trotzdem bis in Details wiedergeben könnte, weil er konzentriert ist und sich unheimlich viel merkt. Letzteres ist eine seiner größten Stärken, die ich wirklich bewundere.

Ich durfte mit Bodo Ramelow einmal mehrere Nachtsitzungen während der Schlichtung zwischen Deutscher Bahn und GDL verbringen und ich war irgendwann wirklich am Ende nach stundenlangen Detailberatungen zu Schichtplänen und deren Komplexität. Mein Ausgleich ist dann meist frische Luft, nur ist das genau dann oft schwer aber ich kann gut nachvollziehen, dass es dann auch wichtig ist, den Geist auch mal mit etwas Anderem zu füllen.

Heute war ich schon erschrocken, welche Maßstäbe da plötzlich angelegt werden, was man alles nicht darf. Mich haben solche moralischen Zeigefinger schon immer abgeturnt, ich kann mit Leuten, die scheinbar immer alles und zu jeder Zeit richtig machen, nicht wirklich etwas anfangen. Was für ein Bild erzeugen wir damit von Menschen, die jeden Tag viel Verantwortung tragen?

Ich habe es immer genossen, wenn wir nach langen Tagen und Sitzungen im Auto auch einmal einfach rumgealbert, gesungen oder einfach nichts getan haben. Und ja, dann hat der MP eben ab und an Candy Crush gespielt und sein Büroleiter Biathlon Mania oder Airport City. Was aber bitte sagt das über beide aus? Nicht mehr, als dass das ziemlich normale Typen sind…

Wie froh bin ich, dass Thüringen einen Ministerpräsidenten hat, der sich fast rund um die Uhr um sein Bundesland und die Menschen, die dort leben, kümmert. Ich weiß sehr genau, wie stark ihn die gegenwärtige Lage umtreibt, wie er ab und an schier verzweifelt an Entscheidungen, die zu treffen sind und die uns allen sehr, sehr viel abverlangen. Ich bin einfach froh, dass es die wenigen Momente gibt, in denen Bodo Ramelow sich erlaubt, abzuschalten. Was ich nämlich weiß ist, dass er kurz darauf wieder dabei ist, sein Bundesland durch diese herausfordernden Zeiten zu bringen und gute Lösungen zu finden.

Und genau darauf kommt es im Moment wirklich an!

Torsten Weil war von 2016 bis 2020 Leiter meines Büros in der Thüringer Staatskanzlei und ist seit 4. Märu 2020 Staatssekretär im Thüringer Ministerium für Infrastruktur und Landwirtschaft. Er bloggt auf wordpress.