2020 – mein persönlicher Jahresrückblick

Häufig wird erst in der Rückschau klar, welche Ereignisse eines Jahres wirklich bedeutsam waren, welche dieses nur auf den ersten Blick für sich beanspruchen können und welche von den Zeitgenossen in ihrer Tragweite über- oder unterschätzt wurden.

Mit 2020 verhält es sich meiner Meinung nach recht anders. Das Jahresende lädt dazu ein, darüber einmal vertieft nachzudenken.

Aus 2019 hatten wir in Thüringen ein ebenso spannendes wie komplexes Erbe mit ins neue Jahrzehnt genommen – nämlich ein Landtagswahlergebnis, das weder einer links-geführten rot-rot-grünen noch einer anderen demokratischen Koalition unter CDU-Führung eine Mehrheit einräumte – auch wenn der Wahlerfolg der Linkspartei und mein ganz persönlicher im Wahlkreis unbestreitbar waren. Die CDU als selbsternannte „Thüringen-Partei“ hingegen erlebte ein Wahldebakel und rutschte auf den dritten Platz.

Dass solch ein Wahlausgang in einer Republik, die mögliche Minderheitsregierungen maximal als große Abweichung von der Regel stabiler Bündnisse ansieht, für Aufsehen sorgen musste, war klar. Beispiele für erfolgreiche Minderheitskoalitionen wie in den 1990ern in Sachsen-Anhalt – Stichwort „Magdeburger Modell“ – waren anno 2019 offensichtlich nur noch Liebhabern oder politischen Experten bekannt. Umso mehr bin ich auch heute noch stolz darauf, dass wir als rot-rot-grün mit dem Wählerwillen verantwortungsbewusst umgegangen sind. Neuwahlen nur deshalb zu avisieren, weil eine Mehrheit für die Wunschkoalition nicht zustande kommt, halte ich demokratietheoretisch wenigstens für fragwürdig. Die Bürgerinnen und Bürger haben mit ihrer Stimmabgabe den politisch Verantwortlichen bewusst eine Aufgabe gestellt, die sie zu lösen haben. Respekt vor dem Wählerwillen heißt deshalb für mich, jede denkbare – und vor allem auch politisch vertretbare – Option auszuloten. Dass sich am Ende (zunächst) weder die CDU noch die FDP bereitfanden, die von uns ausgestreckte Hand zu ergreifen und projektbezogen mit rot-rot-grün zusammenzuarbeiten, gehört zur Wahrheit dazu. Gleichwohl gab es zumindest aus der CDU vorsichtige Zeichen der Annäherung – z.B. als die Landtagsfraktion mit großem Getöse einen  Themenkatalog für potenzielle Zusammenarbeiten mit R2G vorlegte oder die Spitzen von Landkreistag (Frau Schweinsburg, CDU) und Gemeinde- und Städtebund (Herr Brychcy, CDU) öffentlich für eine Minderheitsregierung warben.

Dieses alles sind Dinge, über die man trefflich streiten kann. Ohne Frage braucht eine parlamentarische Demokratie voneinander unterscheidbare Parteien mit klaren Profilen. Dort allerdings, wo der eigenen Profilierung das Wohl des Bundeslandes geopfert wird, ist für mich Schluss.

Letzteres geschah schließlich am 05. Februar 2020 als der FDP-Kandidat Thomas Kemmerich mit den Stimmen von CDU und AfD zum Ministerpräsidenten gewählt wurde – ein Vorgang, der von vielen Kommentatoren und Politikern als „Dammbruch“ bezeichnet wurde. Vieles ist über diesen Tag geschrieben und gesagt worden. All dem möchte ich nicht viel Neues hinzufügen. Es bleibt jedoch wahr: Wer sich im Jahr 2020 von der AfD zum Ministerpräsidenten küren lässt, der ist eben keine „Glatze, die in Geschichte aufgepasst hat“, wie Thomas Kemmerich einige Monate vorher noch auf einem Plakat über sich selbst sagte.

Wer wie Björn Höcke mit Blick auf die deutsche Erinnerungskultur von „dämlicher Bewältigungspolitik“ fabuliert und eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ fordert, wer das Holocaust-Mahnmal als „Denkmal der Schande“ apostrophiert oder wie Alexander Gauland behauptet  „Hitler und die Nationalsozialisten sind nur ein Vogelschiss in 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte“, der darf niemals auch nur in die Nähe einer Regierungsbeteiligung kommen. Dass diese AfD, die den Nationalsozialismus verharmlost und rassistisch hetzt, nun allerdings einen Ministerpräsidenten einer 5-Prozent-Partei mit maßgeblicher Stimmenzahl wählt, hat gezeigt, wie dünn die Firnis der politischen Zivilisation ist und welche Verantwortung wir alle für sie tragen. Vor diesem Hintergrund muss auch der viral gegangene Blumenstraußwurf unserer Landesvorsitzenden Susanne Hennig-Wellsow verstanden werden – als Zeichen des Protests gegen die Aushöhlung der Demokratie durch drei Parteien, von denen zwei – wohlwollend gesprochen – bewusst das Risiko eingingen, von Rechtsextremen gewählt zu werden und eine (die AfD) eiskalt einen Kandidaten Kemmerich lockte, um ihn dann „planmäßig“ zu wählen. In diesem Zusammenhang hat Stefan Möller (AfD) eigentlich alles gesagt. Wer in deutschen Parlamenten Fallen baut, Leimruten auslegt oder Scheinkandidaten aufstellt, um dann geschlossen einen anderen Kandidaten zu wählen, der zeigt, was er von unserer Demokratie und den zugehörigen Verfassungsorganen hält – nichts!

Wie gut die demokratischen Abwehrkräfte unserer Gesellschaft dennoch funktionieren, zeigte sich bereits in den Stunden nach der Wahl Kemmerichs. Tausende Bürgerinnen und Bürger gingen in Thüringen und der ganzen Republik gegen den Tabubruch von Erfurt auf die Straße und machten damit deutlich, dass sie einer Unterwanderung der vielfältigen und toleranten Demokratie nicht tatenlos zusehen würden. Der Rücktritt des Kurzzeit-Ministerpräsidenten Kemmerich und die Verhinderung einer AfD-gelenkten Landesregierung ist ganz vordringlich all denen zu verdanken, die in den Februartagen des Jahres 2020 glasklar ihre demokratische Haltung illustrierten. Dafür gebührt ihnen ein ganz besonderer Platz in allen Jahresrückblicken in 2020.

Um kurz zu bilanzieren: Auch wenn Herr Kemmerich es bis heute anders sieht: Diese vier Wochen im Februar und März, die Thüringen mit einem Mal ins Rampenlicht der internationalen Öffentlichkeit katapultierten, bleiben seine – ja, auch historische – Verantwortung. In dieser Zeit leisteten die Staatssekretäre von R2G Großes, indem sie die gesamte Regierungsarbeit übernahmen, da Herr Kemmerich weder ein Kabinett ernannte, noch seinen anderen verfassungsmäßigen Rechten nachkam. Zweifelhafte Geschichte schrieb Thomas Kemmerich unter anderem auch, indem er nicht zur Bundesratssitzung nach Berlin reiste und dadurch dafür sorgte, dass das erste Mal seit 1945 ein Bundesland völlig im Bundesrat fehlte.

In den sich anschließenden Wochen fand sich endlich auch die CDU bereit, mit R2G über Wege aus der von ihr mitverursachten Regierungskrise zu beraten. Am Ende der Verhandlungen stand schließlich die Vereinbarung des Stabilitätspaktes zwischen R2G und der CDU, meine Wiederwahl zum Thüringer Ministerpräsidenten am 04. März 2020 sowie die Absprache zur Abhaltung von Neuwahlen am 25. April 2021. (Nur als Fußnote am Rande: Auch die CDU-Bundesvorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer nahm nach den „tollen Tagen“ von Thüringen ihren Hut. Seitdem erlebt die verwunderte bundesdeutsche Öffentlichkeit die mehrteilige Serie „Deutschland sucht den Supervorsitzenden“.)

Im Februar und März 2020 haben wir wie unter einem Brennglas verdichtet erlebt, wie Demokratie in Krisen geraten, sich allerdings durch vernunftgeleitetes Handeln der Demokraten auch wieder aus ihnen heraus kämpfen kann. Alle Beteiligten – auch die CDU – haben bewiesen, dass ihnen nicht egal ist, in welchem Land wir leben und dass es einen Unterschied macht, ob wir unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung verteidigen oder aber denen überlassen, die mit ihr Schindluder treiben.

Viel Zeit zum Verschnaufen blieb allerdings nicht. Das Corona-Virus hatte im März Deutschland erreicht und auch Thüringen blieb nicht verschont. Seitdem befinden wir uns in einer dauerhaften Ausnahmesituation, die den Menschen in unserem Land bis dahin Undenkbares abverlangt. Während ich diese Zeilen schreibe, sind mobile Impfteams auch in unserem Freistaat unterwegs, um die ersten Menschen gegen das Virus zu impfen. Damit ist zwar das Virus noch lange nicht aus der Welt und wird uns alle auch noch längere Zeit beschäftigen. Aber – und das scheint mir gerade zum Jahresende wichtig zu sein: Wir blicken mit Zuversicht und Optimismus ins kommende Jahr. Und trotzdem sind wir alle weiterhin zu Achtsamkeit uns und unseren Mitmenschen gegenüber angehalten. Die Landesregierung wird das ihre tun, um all jene zu unterstützen, die durch die aktuell notwendigen Maßnahmen in ökonomische, aber auch soziale Schwierigkeiten geraten sind. Zu danken haben wir all denen in den Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen, in den Ministerien und bei der Polizei, in den kommunalen Verwaltungen, den Supermärkten oder den Schulen, die in diesen schweren Monaten für das Funktionieren unseres Gemeinwesens arbeiten.

In meiner Regierungserklärung am 03. November 2020 habe ich im Landtag hervorgehoben, dass die vor uns liegende, schwere Zeit uns alle vor große Herausforderungen stellt, dass aber genauso der Zeitpunkt gekommen ist, an dem die viel beschworene „Stunde der Exekutive“ vorbei sein muss. Auf mein Drängen hin ist die Frage nach umfassender Parlamentsbeteiligung in allen Fragen des Pandemiemanagements ausgiebig in der Ministerpräsidentenkonferenz behandelt worden und ebenso haben wir in Thüringen den Weg beschritten, um die Wirkungsprozesse zwischen dem Parlament und der Regierung wieder in den verfassungskonformen Normalzustand zu transferieren.

COVID19 wird eine der schweren Erblasten sein, die uns das Jahr 2020 nach 2021 überhelfen wird. Daher überrascht es auch nicht, dass viele andere politische Entscheidungen und Prozesse von dem kleinen, aber so gefährlichen Virus überdeckt wurden. Deshalb muss ich zumindestens in aller Kürze auf den historischen Vorgang hinweisen, den man am 21.12.20 im Thüringer Landtag erleben konnte. Eine links-geführte Minderheitsregierung hat es vermocht, gemeinsam mit dem Stabilitätspartner CDU einen Haushalt zu verabschieden – in einer politischen und pandemiebedingten Ausnahmesituation, an der mancher gescheitert wäre. Mit dem Haushalt 2021 haben wir der gegenwärtig prekären Lage Rechnung getragen, aber auch ein deutliches Ausrufezeichen an die Kommunen gesendet – die kommunale Familie wird nicht alleingelassen. Meine Losung war immer, dass Politik nur dann das Prädikat „gut“ für sich beanspruchen kann, wenn sie keinen einzigen Menschen – denn jeder Einzelne ist kostbar – zurücklässt. Das haben wir nach bestem Wissen und Gewissen im Haushalt versucht abzubilden. In stürmischen Zeiten, in denen alte Gewissheiten brüchig geworden sind, haben wir bewiesen, dass die Landesregierung als Stabilitätsanker fungiert und den Menschen die Sicherheit gibt, dass es in 2021 weitergehen wird.

Aber auch andere Erfolge konnten wir im laufenden Jahr verzeichnen. Nur stichwortartig: am Ostthüringer Bahnkreuz geht es voran, Spatenstich reiht sich beispielsweise in Jena an Spatenstich und das ICE-Kreuz Erfurt verändert gerade nachhaltig das Entree unserer Landeshauptstadt. Die BUGA-Vorbereitungen laufen auf Hochtouren, für das Lindenau-Museum und das Theater Altenburg sind sämtliche Weichen auf Grundsanierung gestellt und sogar beim Schloss Reinhardsbrunn haben wir mit großem Anlauf die letzte Hürde genommen, nicht zu vergessen der Förderbescheid für die Ellricher Kirche.

All die Ereignisse aus 2020, die es mir wert waren, einmal erwähnt zu werden, bebildern, wie anders das zu Ende gehende Jahr im Vergleich zu denen vorher ist. Schon heute können wir sagen: der 05. Februar, COVID19 und die lösungsorientierte Zusammenarbeit der Demokraten im Thüringer Parlament sind allesamt bereits aus der Gegenwartsperspektive  erkennbar bedeutsame Ereignisse mit Langzeitwirkung – im Guten wie im Schlechten.

Mich persönlich hat das Jahr 2020 gelehrt, wie schnelllebig, komplex und zum Teil unvorhersehbar das Leben sein kann. Heute vor einem Jahr wäre ich nicht im Traum darauf gekommen, einen solchen Jahresrückblick zu schreiben. Nichts von dem, was uns nach dem 01.01.2020 beschäftigt hat, war in seinen Ausmaßen in 2019 absehbar. Umso ermutigender ist meine zweite Erkenntnis: Auch für plötzlich auftretende Krisen und Einbrüche ist unsere Demokratie gewappnet. Dabei liegt es in der Natur der Sache, dass jede Entscheidung kritisch hinterfragt und auch diskutiert werden muss. Am Ende ist jedoch entscheidend, dass aus politischer Debatte ein Ergebnis erwächst, das den Menschen in unserem Land dient.

In 2021 werden die Herausforderungen sicherlich nicht kleiner – im Gegenteil. Nach diesem 2020 wissen wir allerdings, dass auch unüberwindbar erscheinende Hindernisse genommen werden können. In diesem Sinne schließe ich mit meinen beiden Jahreslosungen 2020:

„Wer nicht zweifelt, wird nicht überzeugt.“ (Hölderlin)

„Auch aus Steinen, die einem in den Weg gelegt werden, kann man Schönes bauen.“ (Goethe)

Ich wünsche Ihnen allen und Ihren Familien ein gesundes neues Jahr, dem wir alle mit Hoffnung und Zuversicht begegnen sollten.