Die wunderbare Wandlung eines Berges

„Der Glaube kann Berge versetzen“, so steht es gleich mehrfach in der Bibel. Bei Matthäus heißt es beispielsweise: „Wenn Ihr Glauben habt und nicht zweifelt, so werdet ihr nicht allein Taten wie die mit dem Feigenbaum tun, sondern, wenn ihr zu diesem Berge sagt: >Hebe dich und wirf dich ins Meer!<, so wird es geschehen.“ An diese Sentenz musste ich am Samstag denken, als ich zwischen sehr vielen Terminen einen Abstecher auf den Erfurter Petersberg machte.

Dieser Petersberg ist heute das größte Flächendenkmal Thüringens und mit seinem Festungsbau einer der markantesten Punkte Erfurts neben Krämerbrücke und  Dom. Nicht erst wir, sondern bereits die Menschen der Vor- und Frühgeschichte haben diesen als außergewöhnlichen Ort erkannt und siedelten dort bereits vor einigen Jahrtausenden. Er diente den Kelten und Germanen mal als Walburg, aber auch als Fluchtburg und Kultstätte. Die Franken sollen nach dem Sieg über die Thüringer auf dem Petersberg eine Königspfalz und einen Kollegiatstift errichtet haben. Da die europäische Königsstraße – besser bekannt als Via Regia – direkt am Fuße des Petersberges vorbei ging, war es auch immer ein Ort des Schutzes. Und als im Jahr 755 Bonifatius das Bistum Erfurt mit dem Bistum Mainz vereinte, wandelte sich im Jahr 1060 der Kollegiatstift zu einem Benediktinerkloster. Kaiser und Könige sollen in der benachbarten Königspfalz Unterkunft erhalten haben und während des Dreißigjährigen Krieges besetzten die Schweden den Berg, da sie seine strategische Bedeutung erkannten. Unter dem Kurmainzischen Kurfürsten wurde die Anhöhe dann systematisch zur Stadtfestung bis hin zur heutigen Zitadelle Petersberg ausgebaut – in ihrer Mitte der imposante Bau der Peterskirche, die einstmals die größte romanische Pfeilerbasilika in Thüringen war. Unter den Franzosen und später auch den Preußen wurden die Türme gekappt, das Gebäude verkleinert und die innen tragende Konstruktion zu einem gewaltigen Lagerhaus umgewandelt. Bei Grabungsarbeiten wurden außerdem die Fundamente der ersten kleinen Kapelle dort aufgefunden, wo jetzt etwas sehr besonderes entsteht – der Paradiesbaum.

Ein israelischer Künstler, der ein arabischer Christ ist und mit einer jüdischen Künstlerin gemeinsam dieses Kunstprojekt geschaffen hat, ist seit dem Beginn der ACHAVA-Festspiele in Erfurt. Ich möchte hier lieber nicht weiter ausführen, wie anstrengend es war, diesem Künstler die Reise von Israel in Corona-Zeiten zu ermöglichen und auch die Berechtigung, dass er nun auf dem Petersberg arbeiten kann, zu erhalten. Der Künstler Nihat Dabeet, der sein Atelier in Ramle hat, hat den Paradiesbaum dort in Israel entstehen lassen, dann zum Transport reisefertig zerlegt, in Seecontainer verpackt und 70.000 Blätter für den Baum zu uns auf die Reise geschickt. 10.000 weitere Blätter waren schon vorab in Thüringen und konnten als Spende erworben werden. Ich persönlich hatte einen Spendenbeitrag für die neue Thora beigesteuert  , die in der neuen Synagoge in Eisenberg ihren Platz finden soll. Damit beherbergen wir in Thüringen jetzt sowohl die jüngste als auch die älteste Synagoge Europas. So schließt sich ein Kreis.

Für meine Spende bekam ich bei der Eröffnung des neuen Krankenhauses in Eisenberg vom Geschäftsführer statt einer Spendenbescheinigung ein ganzes Paket von Blättern für den Paradiesbaum. Diese habe ich dann sehr gerne spontan auf den Petersberg zu Nihat gebracht, um mit ihm gemeinsam damit den Baum zu schmücken.

Dabei erzählte mir Nihat, dass er sich bei seiner Kunst von der Silhouette der Olivenbäume leiten ließe. Für die Menschen in Israel und auch für ihn als arabischen Christen ist ein Olivenbaum ein Symbol von großer Bedeutung.. Seine Langlebigkeit und Zähigkeit sind bewundernswert und wer sieht, wie selbst hunderte Jahre alte Bäume wieder Früchte tragen, kann nur staunen.

 Während wir gemeinsam die Blätter am Baum anbrachten, erzählte Nihat  mir, dass die Grundsubstanz seines Kunstwerkes Amierungsstahlschrott sei, der aus Häusern stamme, die in den letzten Jahren abgerissen wurden. In  ganz Israel sammelt er solche Amierungsstähle. Schrott, ja Stahlschrott war für mich das Stichwort. Denn quasi in Sichtweite des Paradiesbaumes befindet sich das Denkmal des unbekannten Wehrmachtsdeserteurs. Am 1. September 1995 haben wir auf der Zitadelle dieses Denkmal eingeweiht. Die Vorgeschichte hat sehr viel mit mir zu tun, denn ich brachte diese Idee 1990 aus Marburg mit. Dort hatten wir schon in den Achtziger-Jahren das Thema „Wehrmachtsdeserteure“ als Gewerkschaftsjugendliche immer wieder debattiert und Forderungen aufgestellt, dass die den Erschießungen zugrunde liegenden Urteile endlich aufgehoben gehörten. Auch dort hatten wir bereits ein mobiles Denkmal errichtet. Einige Jahre später – in Vorbereitung auf den 50. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus – nahm in Thüringen ein ganz ähnliches Projekt Fahrt auf. Gemeinsam mit Auszubildenden, Schülern und dem DGB-Bildungswerk veranstalteten wir Wochenendseminare, in denen der Plan reifte, in Thüringen ebenfalls einen ähnlichen Erinnerungsort zu gestalten. Über den von mir geleiteten Kulturverein „Mauernbrechen“ hatten wir mit dem Erfurter Künstler Thomas Nicolai bereits eine Ideensammlung begonnen und von Thomas Nicolai kam dann auch der Entwurf, der schließlich auf dem Petersberg umgesetzt wurde. Beide Kunstwerke – der Paradiesbaum ebenso wie das Deserteursdenkmal –  sind nur wenige Meter voneinander entfernt, aber nicht gleichzeitig sichtbar. Das Denkmal des unbekannten Wehrmachtsdeserteurs steht quasi eine Etage tiefer an der Stelle in der Bastion, an der tatsächlich Deserteure erschossen wurden. In luftiger Höhe darüber an der prominentesten Stelle des Petersberges entsteht nun der Paradiesbaum und von diesem Platz aus kann man weit ins Land blicken. So wie der Paradiesbaum aus Bauschrott entstanden ist, so ist auch der Lokomotivenschrott des Reichsbahnausbesserungswerkes in Meiningen das Rohmaterial, mit dem der Künstler, aber auch die jungen Auszubildenden des Bahnbetriebswerkes, das Deserteursmahnmal gestaltet haben. Darüber sprachen wir sehr intensiv und Nihat lauschte sehr aufmerksam meiner Erzählung von der Entstehung des Mahnmals. Als Übersetzer war der Erfurter Michael Ritzmann bei dem ganzen Gespräch engagiert dabei. Michael arbeitet als Künstler und als kreativer Autodidakt. Unter dem Künstlernamen „Praxis Dokter Molrok Fachanstalt für professionellen Geisterwahn“ arbeitet er mit Graffiti, Bildhauerei, Malerei und eben auch Stahlskulpturen. Da das Künstlerteam von Nihat Dabeet aus Israel nicht anreisen konnte, ist es eine wunderbare Fügung, dass nun Michael Ritzmann alias „Dokter Molrok“ und Nihat gemeinsam in der Zeit vom 12. bis zum 20. September den Baum auf dem Petersberg entstehen lassen. Jeder kann gerne noch kommen und so er will auch ein Blatt als persönlichen Beitrag mit verarbeiten lassen. Am 20. September um 17:00 Uhr wird die Vernissage stattfinden und das abgeschlossene Wunderwerk zu besichtigen sein. 

Mit Nihat und Michael stand ich einige Minuten zusammen und schaute mit ihnen über die ganze Stadt und Nihat sagt mir, er sei zutiefst berührt, dass er nun diesen Paradiesbaum genau gegenüber vom Glockenturm der Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald errichten könne. Bei der Arbeit schweife sein Blick ständig dorthin und er denke an die Greul, die dort passiert sind. Ich zeigte ihm dann den katholischen Dom, das evangelische Augustinerkloster, die Richtung, in der die alte Synagoge und die neue Synagoge sich befinden, und verwies auf den imaginären Punkt hinter uns, an dem gerade die Moschee gebaut wird. Alle abrahamitischen Religionen sind von hier oben aus mit ihren Gotteshäusern sichtbar und praktisch in der Mitte wächst nun der gemeinsame Paradiesbaum. Dies wird auch der zentrale Ort der Bundesgartenschau und an dieser Stelle werden wir auch die Gärten der Religionen haben. In der wunderbaren Petersbergkirche, die zurzeit mit Hochdruck saniert wird, kehrt dann im kommenden Jahr passend zur Bundesgartenschau auch ACHAVA mit Festivalangeboten auf den Berg zurück. So wandelt sich der militärische Charakter, der drohende Charakter, ja der bedrohende Charakter des Petersberges in einen Ort der Versöhnung, in einen Ort der Begegnung. Mein fester Glaube, dass Unrecht thematisiert werden muss, damit Recht geachtet und immer wieder neu entstehen kann, hat an diesem Ort zumindest Spuren hinterlassen. Die Wehrmachtsdeserteure sind zwischenzeitlich vom Bundestag rehabilitiert worden. Es war ein langer Weg. Als wir 1995 das Denkmal einweihten, war es ein politischer Streit in der Stadt und mein Vorgänger Bernhard Vogel empfand die Idee des Denkmals als nicht sonderlich hilfreich und als Belastung. Die Debatte, die Bernhard Vogel ausgelöst hat, war aber dafür umso hilfreicher, denn nun mussten wir, die wir als Gewerkschafter die Idee realisieren wollten, viele Argumente zusammentragen, warum dieses Unrecht aufgehoben werden musste. Heute ist das Denkmal ein Bestandteil der Besichtigungen und der Petersberg ein unglaublich lebendiger Ort, der mit der Bundesgartenschau in einen völlig neuen Wert gesetzt wird. Als Orientierungspunkt und weithin sichtbares Zeichen wird der Paradiesbaum deutlich machen, dass Glauben und Berge etwas Gemeinsames haben. Nur einen Punkt hat Nihat bedauernd festgestellt. Ich erzählte ihm, dass Haifa die Patenstadt von Erfurt sei und wenn man dort auf dem Berg Karmel steht sieht man eins, nämlich das weite wunderbare Meer. Damit können wir auf dem Petersberg nicht dienen. Wenn also der Glaube, wie Jesus sagt, den Berg ins Meer bringen könnte, so darf ich feststellen: Nihat und ich schauten voller Sehnsucht imaginär zum Meer und wünschten uns, dass der Berg mit Namen Petersberg dort bleibt, wo er ist, nämlich mitten in Erfurt und mitten im Leben.