Gleichberechtigung – mehr als Festtagsreden!

Am 31. Juli 1919 verabschiedete die Nationalversammlung der jungen Weimarer Republik eine neue Verfassung. Sie galt – trotz aller inhaltlichen Mängel, die sich spätestens ab 1933 als besonders folgenschwer erweisen sollten – als eine der freiheitlichsten und demokratischsten Verfassungen der Welt. Nicht zuletzt die Verankerung des allgemeinen und gleichen Wahlrechtes, das auch Frauen miteinschloss, wurde bereits von Zeitgenossen als Meilenstein der Demokratiegeschichte gefeiert. Damit markierte die Weimarer Verfassung den vorläufigen Höhepunkt einer Frauenrechtsbewegung, die bereits im Kaiserreich patriarchale Herrschaft und Dominanz kritisierte.

Auf dieses bleibende Verdienst hat im Jahr 2019 auch Bundespräsident Frank Walter Steinmeier in seiner Festrede anlässlich des Festaktes zu „100 Jahre Weimarer Reichsverfassung“ in Weimar hingewiesen. Ich war natürlich als Mitgastgeber anwesend und habe noch den schallenden Applaus aller anwesenden Festgäste im Ohr. Für Worte wie „Frauenwahlrecht“ und „Gleichberechtigung“ zu applaudieren ist heute – das kann, wer will, bereits als emanzipatorischen Fortschritt begreifen – fast zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Über Parteigrenzen hinweg führt man jene Worte gern im Mund und kaum eine Feierstunde mit einem demokratiegeschichtlichen Bezug kommt ohne sie aus. Wie ernst es manchem damit allerdings ist, wenn alle Festreden gesprochen und alle Blumensträuße verteilt sind, wird spätestens im Alltag deutlich – also dort, wo nicht hinter jeder Ecke Kameras und Applaus für Lippenbekenntnisse lauern.

Bestes Beispiel: die gegenwärtige Debatte um das Thüringer Parité-Gesetz, das die Landesregierung ebenfalls im Jahr Einhundert nach der Verabschiedung der Weimarer Verfassung auf den Weg gebracht hat, um die bereits in Weimar angestoßenen Entwicklungen weiter voranzutreiben. Denn ein Wahlrecht und juristische Theorie allein machen noch keine wirkliche Gleichberechtigung. Unsere Thüringer Landesverfassung ist in diesem Punkt übrigens sehr deutlich:

„Frauen und Männer sind gleichberechtigt. Das Land, seine Gebietskörperschaften und andere Träger der öffentlichen Verwaltung sind verpflichtet, die tatsächliche Gleichstellung von Frauen und Männern in allen Bereichen des öffentlichen Lebens durch geeignete Maßnahmen zu fördern und zu sichern.“

Dieser Verpflichtung nach „tatsächlicher“ und nicht nur theoretischer Gleichberechtigung Rechnung tragend, sollte das – ironischerweise abermals in Weimar vom hiesigen Landesverfassungsgericht gekippte – Parité- Gesetz Frauen Gleichberechtigung in einem Feld verschaffen, das bis heute ganz eindeutig männerdominiert ist – nämlich der Politik auf Landesebene. 

Die Landesvorsitzende meiner Partei hat sehr treffend durchbuchstabiert, wo die juristisch und auch politisch problematischen Implikationen, des Urteils vom gestrigen Tag liegen. Wir werden uns hier intensiv und mit der nötigen Achtung vor dem Verfassungsorgan sehr detailliert die Begründungen der Richter anschauen, um weitere Schritte zu planen.  Aber mindestens genauso entscheidend: Auch rechtliche Regelungen zum Anteil von Frauen auf Wahllisten allein sind nur ein Tropfen auf den heißen Stein der vielfältigen sozialen und ökonomischen Ungerechtigkeiten, gegen die Frauen tagtäglich und seit Ewigkeiten ankämpfen.

Ich bin alt genug, um mich an den Kampf der sog. Heinze-Frauen einer Gelsenkirchener Fotofirma für gleiche Entlohnung wie ihre männlichen Kollegen Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre, zu erinnern. Am Ende gab ihnen das Bundesarbeitsgericht in Kassel in der Sache Recht. Ich war damals bei einer der großen Solidaritätskundgebungen vor Ort dabei und die Erinnerung an diesen Prozess, der bundesweit für große Aufmerksamkeit sorgte, lässt mir gegenwärtig werden, wie lange der Kampf für echte Gleichberechtigung – jenseits theoretischer Spitzfindigkeiten – bereits andauert. 

Wer die Ereignisse der letzten Tage noch einmal Revue passieren lässt, wird Folgendes konstatieren müssen: Männer (, denn die Mehrzahl der Thüringer Verfassungsrichter sind ebensolche) entschieden über die Zulässigkeit eines Gesetzes, das Frauen rechtlich verbrieft größere Gleichberechtigung garantieren sollte. Und Männer waren es in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle, die in Zeitungen und Online R2G nahezu Alles und Jedes vorwarfen – von der Unterhöhlung ehrlicher Gleichstellungsversuche der CDU bis hin zum offenen Verfassungsbruch. Muss man sich bei dieser Gemengelage also ernsthaft fragen, warum die Notwendigkeit einer paritätischen Listenbesetzung häufig kaum gesehen wird?

Besonders perfide waren allerdings diejenigen Kommentare, die das Weimarer Urteil als „Ohrfeige“ für „Ideologen“ bezeichneten. Was heißt das übersetzt? Wohl doch, dass das Erkennen von struktureller Ungleichbehandlung zwischen Männern und Frauen und die Arbeit an ihrer Beseitigung aus „falschem Bewusstsein“ oder weltanschaulich extremistischen, also abzulehnendem, Gedankengut resultiert. Wer sind dieser Logik folgend dann die kühlen, rationalen, „unideologischen“ Akteure? Etwa AfD und Co.? Ich sage klar: Nein!

Ein Blick auf die Führungspositionen in Wirtschaft, Forschung, Politik und auch in Chefredaktionen zeigt, wie weit die Realität von der notwendigen Geschlechtergerechtigkeit entfernt ist. Da kann ruhig weiter männerbündisch argumentiert werden, aber mehr Frauen in Führungspositionen würden auch uns Männern gut tun. 

Für mich gilt gestern wie heute die Forderung der streikenden Arbeiterinnen in Lawrence, USA, von 1912: „The woman worker needs bread, but she needs roses too.“ An diesen Worten, genauso wie am Geist unserer Verfassung, muss sich ernstgemeinte Politik der Gleichberechtigung messen lassen – nicht an Lippenbekenntnissen zu Festtagsreden, die keinem wehtun. Wir bleiben dran!