Ein denkwürdiger 17. Juni 2020

Der 17. Juni  ist in jedem Jahr ein Tag, der angefüllt ist mit dem Gedenken und der Erinnerung an 1953 und den Aufstand in der DDR gegen die Unterdrückung und Ignoranz durch die SED-Obrigkeit. Dazu habe ich am 16. Juni auf Thüringens zentraler Gedenkveranstaltung in der Gedenk- und Erinnerungsstätte Andreasstraße gesprochen.

In meiner Rede an diesem Ort, der als ehemaliges Stasi-Untersuchungsgefängnis stellvertretend für die Missachtung fundamentaler Menschenrechte durch die SED-Führung steht, habe ich insbesondere auf zwei Bücher verwiesen, die mein Denken über den 17. Juni nachhaltig geprägt haben und die ich im Jahr 1992 – also beinahe 40 Jahre nach diesem geschichtsträchtigen Ereignis – regelrecht verschlungen habe. Es waren dies Peter Weiss’ monumentales Werk „Ästhetik des Widerstandes“ und Stefan Heyms „5 Tage im Juni“.

Weiss hat mir mehr als deutlich die Widersprüchlichkeit totalitärer Systeme vor Augen geführt. Sie postulieren das Gute und Fortschrittliche, versprechen oft den Himmel auf Erden – und am Ende? Am Ende frisst ihr Absolutheitsanspruch, das Streben der totalitären Systeme nach vollkommener Gleichförmigkeit aller Gesellschaftsglieder alles Progressive auf und lässt es bis zur Unkenntlichkeit verkümmern. Die circa 1000 Seiten lesend zu bewältigen, war durchaus ein Kraftakt. Und dennoch: Ich biss mich durch, weil ich wissen wollte, wie Weiss das fulminante Werk enden lässt.  Die Erkenntnis war ernüchternd. Zu lesen, wie innerhalb der KPD zur Sicherung der bloßen Machtvollkommenheit der Parteiführung kritische Parteimitglieder denunziert, schikaniert und ausgeschlossen wurden, hat mich schockiert. Oftmals reichte schon ein unbedachtes Wort, um in die Mühlen der Dogmenwächter zu geraten.

Heyms „5 Tage im Juni“ habe ich dann in einer Nacht gelesen. Unvergessen bleiben mir einige der Schlusssequenzen, in denen die Hauptfigur resigniert die Vermutung anstellt, dass in der kommenden Zeit viel von Schuld gesprochen werden würde – natürlich ohne dass einer der Genossen aufstehen und eigene Schuld eingestehe. Und er endet mit dem Satz an seine Sekretärin: „Wie mächtig aber wird der Feind, wenn man die Schuld nur beim ihm sucht.“ Dieser kluge Gedanke wirft ein Schlaglicht auf die völlige Unfähigkeit der SED-Führung zur kritischen Selbstreflexion. Die Kader und die gelenkten staatlichen Medien sprachen von „konterrevolutionären Putschversuchen“ oder „westlichen Agenten“, die die Destabilisierung der DDR betrieben. Es konnte nicht sein, was nicht sein durfte. Die Schuld wurde ausgelagert, DDR- Bürgerinnen und DDR- Bürger konnten und durften nicht unzufrieden mit dem SED-Staat sein – und schon gar nicht in einer Art und Weise, die faktisch das System als Ganzes zu stürzen drohte.

Der Roman hatte durchaus das Potenzial, auch in der DDR Anlass zur Debatte zu geben. Aber nicht einmal eine literarische Beschreibung der Vorgänge rund um den 17. Juni 1953 durften die DDR-Bürger lesen. Begründung: Man habe für Heyms Bücher „leider“ kein ausreichendes Papierkontingent. Die Techniken, mit denen die Machthaber kritische Stimmen zum Schweigen brachten, waren subtil, darum aber nicht weniger wirkungsvoll.

Fragen nach dem Umgang und der angemessenen Würdigung von Freiheitsbestrebungen und kämpfen in „realsozialistischen“ Diktaturen treiben uns bis heute um und beschränken sich nicht nur auf den 17. Juni. Wir müssen auch immer wieder neu darüber reflektieren, wie wir mit dem Ungarn-Aufstand von 1956, aber auch dem „Prager Frühling“ von ´68 verfahren. Und als Gewerkschafter möchte ich auch noch einmal an Solidarnosc in Polen erinnern!

Und so muss es wohl eine ganz besondere Fügung gewesen sein, dass mir eine gute Freundin ein Buch empfohlen hat, das ich gestern auf der langen Fahrt nach Berlin zum Treffen der Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten mit der Bundeskanzlerin gelesen habe. Der Roman Machandel setzt den vielfältigen Brüchen und Ungewissheiten am Ende der DDR nach beinahe dreißig Jahren ein literarisches Denk- und ja – auch Gedenkmal. Er wirft bunte Schlaglichter auf die hellen, genauso wie auf die nicht zu verleugnenden dunklen Seiten der späten DDR, vermisst Hoffnungen aber auch Zerstörungen einer Zeit des Wandels.

Mit dieser Literatur im Gepäck kam ich im Bundeskanzleramt an. Es war nach über 12 Wochen das erste physische Treffen der Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten mit der Bundeskanzlerin. Das positive Gefühl, endlich wieder von Angesicht zu Angesicht miteinander sprechen zu können – abseits von den zahlreichen Video- und Telefonkonferenzen – war allen anzumerken. Von den großen Debatten, die noch vor drei Wochen über mich geführt wurden, war nichts zu spüren. Alle 16 Länder haben gestern gemeinsam mit der Bundesregierung Zielvorstellungen und –marken entwickelt, die im Kontext von COVID19 besonders die Corona-App, aber auch die Stärkung kleiner Krankenhäuser umfassen. Darüber hinaus sprachen wir allerdings auch über die Absicherung des weiteren Energiewendeprozesses, den Breitbandausbau sowie den Rechtsanspruch auf Ganztagskinderbetreuung bis zur vierten Klasse. Ein weiterer Vorzug der physischen Besprechung ist natürlich zweifellos die Möglichkeit, auch nebenher Gespräche mit den Kollegen und Kolleginnen führen zu können – z.B. über so zentrale Themen wie Gipsabbau oder Kalisalz, deren Wichtigkeit vor Ländergrenzen nicht Halt macht.

All dieses bestärkt mich darin, uns immer wieder zu ermuntern, den Weg weiter zu gehen, den wir nun eingeschlagen haben. COVID19 bleibt eine Gefahr, aber wir müssen auch mit ganzer Energie wieder die anderen Themen anpacken, die in den vergangenen Monaten nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit standen.

Damit schließt sich auch der Kreis zum 17. Juni, der uns allen ein Tag der Erinnerung, der Trauer um die Getöteten, aber auch der Hoffnung und des Mutes sein sollte.