Auf in einen neuen Alltag

Am gestrigen Tag haben ich und die anderen Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten der Länder an einer weiteren Videokonferenz mit der Bundeskanzlerin teilgenommen. Auf dem Weg zu diesem 06. Mai haben wir Wochen erlebt und erleben müssen, die sich kaum einer von uns vor zwei Monaten hat vorstellen können. Das Corona-Pandemiegeschehen hat uns in beklemmender Deutlichkeit vor Augen geführt, dass unser Leben, die vielen Sicherheiten, die wir in einem insgesamt ökonomisch, sozial und politisch sehr gefestigten Land genießen, doch fragiler sind als wir bislang glaubten. Ein kleines Virus, mit bloßem Auge nicht zu erkennen, hat uns und weite Teile der Welt plötzlich und in erschreckender Geschwindigkeit für einen Moment aus der Bahn geworfen.

Umso wichtiger war es, dass wir in Thüringen schnell und entschieden reagiert haben. Die Maßnahmen, die wir treffen mussten, um das Infektionsgeschehen zu verlangsamen, sind für uns alle sehr schmerzhaft gewesen und auch mich hat es schwer getroffen, Kontaktbeschränkungen zu veranlassen in dem Wissen, wie wichtig auch und gerade für Kinder und Ältere gut funktionierende soziale Beziehungen, die eben auch körperlicher Nähe bedürfen, sind. Die meisten Thüringerinnen und Thüringer haben all die Einschränkungen ihres Lebens angenommen, verstanden und vorbildlich mitgetragen. Dem ist es zu verdanken, dass wir hier kein eruptives Infektionsgeschehen wie in Italien oder den USA erleben mussten und genügend Zeit gewonnen haben, unser Gesundheitssystem fit für diese bedrohliche Lage zu machen. Wir haben es in Thüringen binnen kürzester Zeit bewerkstelligt, die Zahl unserer intensivmedizinischen Betten auf über 1000 zu erhöhen und wir sind mittlerweile imstande über 25.000 Tests pro Woche durchzuführen.

Dabei zeitigt erfolgreiches Krisenmanagement leider – und auch das musste ich in letzter Zeit vermehrt feststellen – falsche Vorstellungen von der Gefahr, in der wir uns nach wie vor befinden. Ja, das Infektionsgeschehen konnte über mechanische Maßnahmen soweit verlangsamt werden, dass wir bislang keine Bilder wie in Bergamo erleben mussten. Trotzdem gilt: Wir dürfen jetzt nicht anfangen leichtsinnig zu werden, uns in übergroßer Sicherheit zu wiegen oder Verschwörungstheoretikern auf den Leim zu gehen, die glauben, wir würden gemeinsam mit Bill Gates düstere Pläne zur Unterjochung der Menschheit schmieden. Es gibt weiterhin keine pharmakologische Antwort auf Corona, keinen Impfstoff. Deshalb kommt den Abstandsgeboten oder der Mund-Nasen-Schutzverpflichtung so großen Bedeutung zu. Ihre Einhaltung ist die Voraussetzung, um zu einem neuen Alltag voranzuschreiten, der die schwierige Balance zwischen den individuellen Freiheiten und dem Recht aller Menschen auf Gesundheit zu halten vermag.

Deshalb haben wir gestern im Kabinett Schlussfolgerungen aus der Kanzlerinnenschalte gezogen und uns darauf verständigt, in eine zweite Phase des Umgangs mit der COVID19-Pandemie einzutreten, die nur möglich ist, weil wir bislang besonnen und konsequent gehandelt haben. Mein Motto dabei ist, das verrät ja auch bereits die Überschrift: „Auf in einen neuen Alltag!“

Ich möchte jetzt nicht jeden einzelnen Punkt aufrufen, aber doch wenigstens einige unserer zentralen Festlegungen des gestrigen Abends skizzieren (den ausführlichen Beschluss finden Sie hier). Uns war sehr wichtig, nunmehr noch stärker den Grundsatz „Einheitlich handeln, wo es notwendig ist – regional differenzieren, wo es die Infektionslage ermöglicht“ zu betonen. Die Kommunen und Landkreise haben in der ersten Pandemiephase vorbildlich mit der Landesregierung zusammengearbeitet. Sie selbst sind die Experten für die Entwicklungen vor Ort und können deshalb auch in besonderem Maße abschätzen, welche Entscheidungen mit Blick auf das regionale Infektionsgeschehen geboten erscheinen. Welche Geschäfte, Tattoostudios oder auch Fitnessstudios wieder öffnen können, wie tragfähig die hierzu vorzulegenden Hygienekonzepte sind, derer es bedarf, um keine neuen Infektionsherde entstehen zu lassen – dieses alles kann nunmehr wieder lokal abgeschätzt werden. Damit öffnen wir die Tür hin zu einem angepassten Vorgehen, das flexibel auf neu entstehende Sachlagen reagieren kann.

Außerdem war es mir und uns ein großes Anliegen behutsam die Kontaktbeschränkungen zu modifizieren. So dürfen ab dem 13. Mai im öffentlichen ebenso wie im privaten Raum wieder Kontakte zwischen Angehörigen des eigenen und Angehörigen eines anderen Haushaltes gepflegt werden. Aber auch hier bitte ich ausdrücklich darum, sich an die Abstandsgebote und die obligatorische Mund-Nasen-Bedeckung zu halten. Diese Verantwortung seinen Freunden und Verwandten gegenüber muss jeder Einzelne übernehmen. Sehr bewegt haben mich die Schicksale von älteren Menschen in Alters- und Pflegeheimen, die über Wochen keinen physischen Kontakt zu ihren Nächsten haben konnten. Es ist tieftraurig, wenn beispielsweise Demenzpatienten, die besonders auch von der Beziehung zu engen Angehörigen zehren, plötzlich von einem Tag auf den anderen aus diesen Begegnungen keine Kraft mehr schöpfen können. Gleichwohl waren umfassende Schutzmaßnahmen und die Erarbeitung von Hygienekonzepten für diese Risikogruppen bei aller Schmerzlichkeit notwendig. Aufbauend auf diesen umsichtigen Konzeptionen wollen wir jetzt die Möglichkeit bieten, dass betroffene Bewohnerinnen und Bewohner eine festgelegte Kontaktperson regelmäßig auch sehen können – natürlich nur unter Einhaltung strenger Hygieneregeln.

Und natürlich haben die harten Eingriffe in unser Leben schwerwiegende ökonomische Folgen. Ich denke dabei an all die Gastronomen, Veranstaltungs- und Eventmanager, aber auch die vielen angestellt Beschäftigten, die in existenzbedrohende Not geraten sind. Hier werden wir weiterhin mit aller Kraft helfen, und dort, wo es verantwortet werden kann, auch Öffnungen vornehmen. So werden wir ab dem 15. Mai auch touristischen und gastronomischen Betrieben eine Wiedereröffnung grundsätzlich gestatten, wenn sie die branchenüblichen Infektions- und Arbeitsschutzbestimmungen erfüllen können.

Auch Eltern und Kinder haben momentan schwer zu tragen. Viele Väter und Mütter sind seit Wochen einer immensen Belastung ausgesetzt, die unter anderem aus den Schließungen von Schulen und Kindertagesstätten resultiert. Sie müssen gegenwärtig mehrere Rollen gleichzeitig bedienen, Lehrer und Erzieher ersetzen. Die Kinder hingegen müssen auf engen Kontakt mit ihren Schulfreunden verzichten und der wichtige Sozialisationsraum Schule ist kurzfristig weggebrochen. Corona ist auch und vor allem eine harte Zeit für Familien.  Gerade deswegen arbeiten wir am großen Tanker „Kindertagesstätte“ weiterhin mit Hochdruck. Wir werden nun die Kommunen dabei beraten und begleiten Stufe 3 des Vierstufenplanes – nämlich die Möglichkeit eines temporären Kita-Besuches eines jeden Kindes nach einem flexiblen Modell – bis zum 02. Juni unter Federführung der örtlichen Verantwortungsträger umzusetzen.

All die eben genannten Punkte tragen dazu bei, einen Alltag zu ermöglichen, der uns in dem Maße „Normalität“ ermöglicht, wie sie die Notwendigkeiten des Infektionsschutzes vertretbar erscheinen lassen. Dieser Alltag wird ein neuer sein, weil er ein Element der sozialen Interaktion – nämlich die körperliche Nähe zu unseren Mitmenschen – weiterhin einschränkt. Und dennoch werden wir einen Alltag erleben, in dem Vertrautes wieder ein Stückweit zurückkehren wird. Lassen Sie uns gemeinsam und solidarisch in diese zweite Phase eintreten. Wir brauchen jede und jeden Einzelnen und seine und ihre Bereitschaft zu einer neuen Kultur der Achtsamkeit, die derzeit so fundamental wichtig ist.

Und zum Schluss meine große Bitte: Lassen Sie sich nicht von denen täuschen, die derzeit im Netz, aber auch auf den Straßen von den bereits angesprochenen „Weltverschwörungs“-Fantasien, von Impfzwang, „Merkel-Maulkörben“ und  vielem anderen irrlichtern. Es gibt viele berechtigte Fragen im Kontext von COVID19, mitunter auch Missverständnisse, auf die ich in einem der folgenden Tagebucheinträge auch noch eingehen werde. Das alles ist normal, richtig und in einer Demokratie, die von Meinungsvielfalt lebt, eine Selbstverständlichkeit. Ja, auch Unsinn reden gehört zum demokratischen Recht auf freie Rede. Menschen allerdings bewusst irrezuführen, ihre Ängste zu missbrauchen, sie gegeneinander aufzuhetzen und dabei in unverantwortlicher Weise ihre Gesundheit zu gefährden ist unredlich, unanständig und moralisch verwerflich.

Ich schließe wie immer in dieser Zeit mit den Worten: Bleiben Sie behütet, aber vor allem: Bleiben Sie gesund!