Plädoyer für eine „neue Normalität“

Am gestrigen Nachmittag habe ich gemeinsam mit den anderen Regierungschefinnen und Regierungschefs an einer Videokonferenz mit Frau Bundeskanzlerin Merkel und dem Bundeskabinett teilgenommen. Wir traten zusammen, um uns über den IST-Stand in der gegenwärtigen COVID19 – Pandemie zu verständigen und daraus Schlussfolgerungen für das weitere Vorgehen im Kampf gegen das kleine Virus abzuleiten, das unser aller Leben in den vergangenen Wochen so tiefgreifend und in vielen Bereichen auch schmerzvoll verändert hat.

In den letzten Tagen ist viel von Forderungen nach „Lockerungen“ und einer „Rückkehr zur Normalität“ geschrieben und gesendet worden. Und ja, in einer funktionierenden Demokratie sind solche Debatten wichtig und notwendig. Einschränkungen von Versammlungs- und Bewegungsfreiheit dürfen nie Selbstzweck sein, sondern müssen permanent von den verantwortlichen Stellen und auch der Öffentlichkeit auf ihre Zweck- und Verhältnismäßigkeit hin überprüft und nötigenfalls korrigiert werden. Dennoch – und das hat mir die gestrige Konferenz vor Augen geführt – wird es eine bruchlose Rückkehr zur Vor-Corona-Zeit in der gegenwärtigen Lage nicht geben können. Wir wissen nach wie vor nicht genug über das Virus, ein Impfstoff ist noch nicht verfügbar und auch die Tests müssen noch wesentlich verbessert werden. Ich finde, man kann nicht oft genug sagen, dass wir uns weiterhin in der mechanischen Phase der Virusbekämpfung befinden. Wir müssen lernen, mit COVID19 zu leben, es zu beherrschen und uns nicht von ihm beherrschen zu lassen. Zu diesem Lernprozess gehört auch, dass das Bewusstsein für eine „neue Normalität“ raumgreifen muss. Das Tückische und für uns so Verstörende an COVID19 ist ja gerade, dass es jeden Bereich des Alltags nachhaltig beeinflusst.

Damit verantwortungsbewusst umzugehen ist mein und muss unser vorrangiges Ziel sein. Deshalb werden wir in Thüringen schrittweise in diese „neue Normalität“ einsteigen, indem wir bestimmte Lebensbereiche behutsam wieder aktivieren – aber immer unter der Maßgabe, dass die höchste Priorität der effektive und auch praktisch umsetzbare Infektionsschutz haben muss. Um einige Eckdaten und Orientierungspunkte zu nennen: ab dem 27. April wird schrittweise der Schulbetrieb wieder aufgenommen – zunächst für diejenigen, die Abitur- und andere Reifeprüfungen abzulegen haben, in der folgenden Zeit, ab Ende Mai/Anfang Juni, auch für andere Schularten. Dabei muss allerdings gewährleistet sein, dass wir alle, die eine wichtige Rolle im Schulbetrieb spielen, auch gut schützen können. Dazu gehören nicht nur Schülerinnen und Schüler, sondern auch und besonders Lehrerinnen und Lehrer, Busfahrerinnen und Busfahrer sowie diejenigen, die die Verpflegung in den Kantinen zu besorgen haben. Auch im Bereich der Wirtschaft werden wir Anpassungen vornehmen. Ab dem 27. April werden Geschäfte mit einer Verkaufsfläche von nicht mehr als 800 Quadratmetern wieder geöffnet werden dürfen, wenn die Voraussetzungen dafür gegeben sind. Das heißt konkret, dass die eingeübten Maßgaben des Schutzes und Abstandhaltens  umgesetzt werden. Ab dem 04. Mai werden weiterhin Frisörläden wieder eröffnen dürfen, wenn sie die Schutzerfordernisse einhalten, derer es aufgrund der Nähe zwischen Kunden und Mitarbeitern bedarf. Alle detaillierten Kabinettsbeschlüsse finden Sie hier.

Und ja: es muss nach wie vor Einschränkungen geben, die niemandem gefallen, über die wir aber mit Betroffenen weiter im Gespräch bleiben werden. Das gilt – und das trifft mich als Christ natürlich besonders – auch für die Religionsausübung. Christinnen und Christen genauso wie ihre jüdischen oder muslimischen Brüder und Schwestern finden Kraft im Glauben und in der Gemeinschaft ihrer Zusammenkünfte. Hier werden wir gemeinsam Möglichkeiten zu sondieren haben, Lösungen für diese missliche Lage zu finden. Großveranstaltungen werden bis zum 31.08. nicht stattfinden können und auch für das schwierige Spannungsfeld zwischen Infektionsschutz und Versammlungsfreiheit werden wir in der kommenden Zeit über Regelungen Brücken zu bauen haben.

Das Alles – Reaktivierungen und weiter aufrecht zu erhaltende Beschränkungen – gehören zu dieser „neuen Normalität“ dazu. Zu ihr gehört auch, dass uns klar ist, dass allen Entscheidungen, die momentan zu treffen sind, schwierigste Abwägungsprozesse zugrunde liegen. Deshalb bitte ich Sie, Verständnis dafür zu haben, dass nicht immer alles gleichzeitig geschehen kann. Ich bin mir aber sicher, dass wir mit Geduld, Ausdauer und dem nötigen Verantwortungsgefühl für unsere Nächsten Schritt für Schritt den weiten Weg, der noch vor uns liegt, bewältigen werden.

„Normalität“ wird in der Soziologie definiert als dasjenige, was in einer Gesellschaft als selbstverständlich gilt, dasjenige, das nicht mehr erklärt und über das nicht mehr entschieden werden muss. Im Kontext von COVID19 ist das grundfalsch. Wir müssen erklären. Und wir müssen entscheiden. Und wir dürfen nicht vergessen, dass die „neue Normalität“, von der ich rede, dazu dient, irgendwann einmal wieder dasjenige zu tun, was wir lange berechtigterweise als Normalität ansahen: Unsere Nächsten auch wieder per Handschlag begrüßen zu dürfen.

 Ich grüße Sie herzlich mit meinem aktuellen Wunsch: bleiben Sie behütet und vor allem gesund!