75 Jahre danach – Die Befreiung des KZ Buchenwald

Am 11.April 2020 jährt sich zum 75. Mal die Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald. Das Gedenken muss in diesem Jahr aufgrund der COVID 19-Pandemie leider anders ausfallen als wir es uns vor wenigen Wochen eigentlich noch gedacht hätten. Trotzdem können, dürfen und werden wir auch in 2020 nicht vergessen, zu was uns dieser Tag mahnt.

Es war hier in Thüringen auf dem Ettersberg nahe der Klassikstadt Weimar, wo selbsternannte „Herrenmenschen“ all diejenigen wegsperrten, knechteten und in letzter Konsequenz auch töteten, die nicht in ihre rassistischen und antisemitischen Unrechtskategorien passten. Gerade dieses Nebeneinander von namenloser Barbarei auf dem Ettersberg und der Kultur eines Goethe, Schiller oder Wieland in Weimar erschreckt mich immer wieder aufs Neue. Der Historiker Götz Aly hat bei seiner Rede anlässlich des Gedenktages für die Opfer des Nationalsozialismus am 27.01.2020 im Thüringer Landtag auf diesen Zusammenhang hingewiesen. Ein bildungsbürgerlicher Hintergrund hielt in der NS-Zeit kaum jemanden davon ab, zum Mitwisser, Komplizen oder gar Exekutor zu werden. Es waren eben auch erschreckend viele sehr gut gebildete Menschen, wie Juristen, Hochschullehrer oder auch Architekten, die als Führer von  SS-Einsatzgruppen den Völkermord an den europäischen Juden planten und umsetzten. Eine Mischung aus völkischem Radikalismus, Antisemitismus, kaltem Nützlichkeitswahn und fataler Autoritätsgläubigkeit ließ diese Männer Frauen, Kinder und Alte ermorden, in dem festen Glauben daran, eine historisch notwendige Mission zum Wohle ihres „Volkes“ zu erfüllen. Diesem faschistischen Denken fielen auch in Buchenwald Zehntausende zum Opfer.  Solche Zahlen sind unvorstellbar und häufig neigen wir dazu, von ihrer Wucht erdrückt zu werden. Wir vergessen, dass hinter jeder einzelnen Zahl ein  Menschenleben steht, das abrupt auf brutalste Weise beendet wurde. Allen diesen Individuen, diesen kostbaren, unwiederbringlich verlorenen Menschen, gilt in diesen Tagen unser Gedenken.

Die Geschichte Buchenwalds führt aber ebenfalls vor Augen, dass die von den SS-Schergen Unterdrückten keineswegs nur passiv Erduldende waren. Als sich amerikanische Truppen am 11. April 1945 auf das KZ zubewegten, war es der selbstorganisierte, bewaffnete Widerstand der Häftlinge,  die bei Ankunft der US Truppen schon die Lagertürme und das Tor übernommen hatten. Noch vor dem Eintreffen der Amerikaner hatte der Lagerwiderstand die letzten verbliebenen SS-Wachen überwältigt und die Kontrolle übernommen. Dabei stehen die Ereignisse von Buchenwald stellvertretend für viele andere Widerstandsakte, wie beispielsweise den Aufstand im Warschauer Ghetto, der im Frühling 1943 von der SS mörderisch niedergeschlagen wurde. Auch dieser Geschichte müssen wir gedenken.

Doch was sagen uns Nachgeborenen die Ereignisse von vor 75 Jahren heute?

Geschichte ist niemals nur eine abgeschlossene Vergangenheit. Ja, Geschichte wiederholt sich nicht eins zu eins. Aber sie kann uns zeigen, welche Strukturen und Konstellationen, zu welchen Ergebnissen führen können. In Zeiten, in denen der Nationalsozialismus samt seiner Verbrechen zum „Vogelschiss“ erklärt wird, in denen es wieder Menschen gibt, die stolz sein wollen auf die „Leistungen deutscher Soldaten in zwei Weltkriegen“ hilft uns die Erinnerung an die Geschichte von Buchenwald eines im Auge zu behalten: Den Untaten gehen Unworte voraus. Es begann nicht mit KZs. Es begann mit dumpfen Bierkelleragitatoren, die die Schuld an der Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg einer vermeintlichen „jüdischen Weltverschwörung“ zuschrieben. Es begann mit „Herren im feinen Zwirn“, die die „völkischen“ Wurzeln deutscher Kultur rein von sog. „fremdem Einfluss“ halten wollten. Und es begann mit der großen Masse derer, die wir nur selten zitieren können, weil sie in den Akten und Urkunden kaum auftauchen – denjenigen, die den Agitatoren lauschten, die wegschauten als ihre Nachbarn deportiert wurden, die sich heimlich sogar freuten, dass sie in die Stellungen oder Wohnungen der als „jüdisch“ diffamierten Menschen einrücken konnten als diese bereits in Waggons eingepfercht auf dem Weg in den sicheren Tod waren.  Ja, die selbst Briefe an „ihren geliebten Führer“ sendeten und um Berücksichtigung baten, wenn das Eigentum der beraubten Juden zur Verteilung anstand. Die Briefe sind in den Oberfinanzbehörden tatsächlich erhalten geblieben – ein erschreckendes Zeugnis der inhumansten Form der so viel gepriesenen „deutschen Gründlichkeit“ im Alltag.

Aus diesem Wissen, das uns die Geschichte liefert, müssen wir im Alltag die Kraft schöpfen, an einer Gesellschaft mitzuarbeiten, die das „Nie wieder“ praktisch werden lässt, das uns ins Stammbuch geschrieben ist. Wir blicken nach Hanau. Wir blicken auf den abscheulichen Mord an Walter Lübcke. Wir blicken auf die anderen Opfer rechtextremer Gewalt der letzten Jahre und Jahrzehnte.

Der rechte Terror im Hier und Jetzt hat in Thüringen einen bitteren Namen aus nur drei Buchstaben:  N S U. Die Täter kamen von hier und waren auch „die netten Kumpels von nebenan.“  Es waren sie aber weder nett noch Kumpels. Es sind und bleiben Mörder. Der rechte Terror ist von Thüringen ausgegangen, aber die Helfer waren überall.

Es muss uns aufgehen, dass der rassistische Wahn nicht einfach mit 1945 verschwunden ist. Er ist noch da – wenn auch in neuer Form. Lassen Sie uns ihm gemeinsam, Hand in Hand, entgegentreten, auf dass der Schwur von Buchenwald auch im Jahr 2020 nichts von seiner Dringlichkeit verlieren möge:

„Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.“