Die Stunde des Parlaments

Am 27. Oktober 2019 haben die Thüringer Wählerinnen und Wähler einen neuen Landtag gewählt. Besonders bemerkenswert ist es, dass die Wahlbeteiligung um 12 % angestiegen ist. Das ist ein gutes Zeichen für eine lebendige Demokratie in Thüringen.

Und ein zweites Merkmal charakterisiert diese Landtagswahl. Selten zuvor dürfte es so deutliche Unterschiede zwischen Erst- und Zweitstimmenergebnis gegeben haben. Die deutlichen Unterscheidungen zwischen der Erst- und der Zweitstimme sind ein beredtes Beispiel dafür, dass sehr genau überlegt wurde, wer im Wahlkreis vor Ort die Stimme bekommt und welche Partei die Zweitstimme bekommen soll. Insoweit wird auch deutlich, dass die zwei Stimmen eine hohe Bedeutung haben und durchaus spannende Folgen haben können.

Es mag sein, dass das Wahlergebnis nicht in die gewohnten Denkmuster der alten Bundesrepublik passt. Es mag auch sein, dass die Parteizentralen Schwierigkeiten haben, Ansätze für einen konstruktiven Umgang damit erkennen zu können. Aber deutlich zu erkennen ist die Chance, das Parlament zu stärken und mit der deutlich gestiegenen Wahlbeteiligung den Abgeordneten einen größeren Schwung und ein starkes Mandat für ihre Arbeit mitzugeben.

Vor fünf Jahren galten Dreierkoalitionen noch als instabil, die Jamaika-Koalition im Saarland scheiterte dann auch deutlich vor Ablauf der Wahlperiode. In Thüringen betraten wir mit der ersten rot-rot-grünen Koalition, noch dazu unter Führung der LINKEN, absolutes politisches Neuland. Thüringen wurden unsichere Regierungsjahre vorhergesagt, einige gaben uns maximal 100 Tage.

Mein Credo damals war, wer sich nicht auf Neues einlässt wird im Alten hängen bleiben. Auch war mir schon seit Mitte der Neunziger Jahre klar, dass die alten Politikmodelle der Bundesrepublik Deutschland nicht mehr dauerhaft greifen werden. Das alte Modell bestand darin, eine große Volkspartei umgarnt die kleine und die FDP koalierte mal mit der CDU, mal mit der SPD und letztlich nach der sogenannten geistig-moralischen Wende unter Helmut Kohl wieder mit den Unionsparteien. In dieser Zeit galt noch der Spruch von Franz Josef Strauß: „Rechts von der Union ist nur die Wand!“

Als mit der Auseinandersetzung um die Atomstandorte Biblis, um Wackersdorf und den Schnellen Brüter immer mehr junge Leute sich von den Volksparteien nicht mehr vertreten sahen, wurde der Grundstein für die heutige Partei der GRÜNEN gelegt. Auch da galt noch die Devise von SPD-Ministerpräsident Holger Börner in Hessen: „So was haben wir früher auf der Baustelle mit der Dachlatte erledigt.“ Eben dieser Holger Börner war es, der dann später nicht zur Dachlatte griff, sondern Joschka Fischer als ersten Umweltminister einer rot-grünen Landesregierung vereidigte.

Am Ende der der alten BRD und kurz vor der Grenzöffnung sollte Helmut Kohl 1989 in Bremen auf dem CDU-Parteitag noch gestürzt werden, was dann aber ausblieb und seine Amtszeit deutlich verlängerte. Der Slogan des Bremer Parteitags war: „Frieden schaffen mit immer weniger Waffen“ und reflektierte die erstarkte Friedensbewegung, die sich gegen den NATO-Doppelbeschluss und die Aufrüstung der DDR mit Kurzstreckenraketen gebildet hatte. All das bildet die alte Bundesrepublik ab und war Grundlage des Vereinigungsprozesses nach Artikel 23 Grundgesetz unter Missachtung des Artikels 146 Grundgesetz. In den turbulenten Zeiten gab es aus der Bürgerrechtsbewegung der DDR viele Stimmen, die anfänglich noch die DDR reformieren wollten, später aber wenigstens den Schwung der Bürgerrechtsbewegung mit in die Bundesrepublik Deutschland nehmen wollten. Alleine die symbolische Auseinandersetzung um den Artikel 146, dem Runden Tisch für eine neue Verfassung in der DDR oder das Schreiben von Lothar de Maizière an Bundeskanzler Helmut Kohl, in dem er um ein Zusammenführen von Ost und West auch mit gemeinsamer Symbolik – geworben hat. Ja, es wäre schön gewesen und würde den Vereinigungsprozess leichter machen, wenn nicht nur die Mehrheit der Bevölkerung die Deutungshoheit über das Zusammenwachsen zwischen Ost und West hätte. Wenn also längeres gemeinsames Lernen, die gute Versorgung mit Kindergartenplätzen und medizinische Versorgung im ländlichen Raum, Sandmännchen und den grünen Pfeil ergänzen würden und wenn dann eine deutsche Nationalhymne in Text und Melodie ein gesamtdeutsches Gefühl abbilden würde und nicht nur die westdeutsche Kulturhoheit, dann wäre mir nicht Bange, dass im Sinne von Willy Brandt zusammenwächst, was zusammengehört. Ich habe dazu auch einen Text hier im Tagebuch geschrieben.

Am Ende der Kohl-Ära hatten Gewerkschafter, Kulturschaffende, Intellektuelle das Gefühl, dass sich Mehltau übers Land gezogen hat. Es bildete sich eine aktive Gruppe, die später mit der „Erfurter Erklärung“ auf sich aufmerksam machte. Hier kam es zur ersten gesamtdeutschen Großdemonstration in Berlin auf dem Alexanderplatz und zum ersten Mal standen Ost und West, aber auch fast alle DGB-Gewerkschaften zusammen und demonstrierten unter dem Slogan „Aufstehen für eine bessere Politik“.

In Thüringen hatten wir zu dieser Zeit schon ein außerparlamentarisches Bündnis gebildet, das sich nach den Kämpfen um die Arbeitsplätze, nach den Kämpfen gegen die Stilllegungspolitik der Treuhand, nach dem Arbeitskampf in der Kaligruppe Bischofferode aufgemacht hatte, dafür zu werben, mehr Demokratie durch mehr Volksbeteiligung zu wagen.

Waren es noch im Jahr 1993 hauptsächlich die Kämpfe um die Betriebe, die von der Treuhand stillgelegt werden sollten und gingen in der sogenannten „Fünf-vor-Zwölf-Bewegung“ jeden Dienstag eben fünf vor Zwölf tausende von Menschen vor ihren Betrieben auf die Straße. Dieser Kampf um Arbeit wurde Teil eines gesellschaftlichen Beteiligungsprozesses. Verbunden mit der Demütigung, dass „junge Schnösel“ und westdeutsche Manager, die im Tiefflug durch die Betriebe rasten und den Daumen nach unten senkten, wurde Arbeitslosigkeit zur konkreten Erfahrung in fast allen Familien. Unter den aktiven Funktionären der Gewerkschaften entstand das Gefühl, dass die Menschen selber wieder Teil des Handlungsprozesses werden müssten. Hier liegt die Wurzel auch meines Engagements als damaliger Gewerkschaftschef, mehr direkte Demokratie wagen zu wollen. Ich kenne die Diskussion aus Westdeutschland, dass Volksbegehren und Volksentscheide auch von antidemokratischen Akteuren missbraucht werden können. Ich kenne das Argument in Verbindung mit der Angst, dass die Todesstrafe per Volksgesetzgebung wieder eingeführt werden könnte.

Alles das war mir, war uns bewusst, aber damit wieder diese Aufbruchstimmung mit westdeutschen Erfahrungen klein zu halten, empfand ich als falsch. Aber ich weiß, dass die Diskussion um mehr direkte Demokratie innerhalb der Gewerkschaften in Thüringen sehr umstritten war.

Diese partizipative Form hätten wir uns gewünscht bei der Erstellung der Thüringer Verfassung. Nicht zuletzt waren es die PDS-Abgeordneten, die sich im Parlament der Zustimmung zur Verfassung insbesondere auch aus diesem Grund verweigert haben. Den freiheitlichen Gedanken der Verfassung wollten sie tragen, die Aussperrung des Wahlvolkes vor der aktiven Beteiligung an der Entscheidung aber nicht. Die mangelnde Ausgestaltung von Volksbegehren in der Thüringer Verfassung war zumindest ein starker Teil der Auseinandersetzung, der letztlich aber nur eine Minderheit folgte, die Thüringer Verfassung wurde durch Volksabstimmung in Kraft gesetzt. Ich achte diese Verfassung und empfinde sie als starkes Momentum einer freien demokratischen Gesellschaft. Trotzdem muss sich auch der Geist und Inhalt dieser Verfassung daran messen lassen, wie sich Gesellschaft und in der Folge auch diese selbst weiterentwickeln.

Als Gründungsmitglied von „Mehr Demokratie“ Thüringen war ich stolz auf das erste und stärkste Bürgerbegehren, das es seit der Wiedergründung Thüringens gegeben hat. 2008 haben wir das große Volksbegehren „Mehr Demokratie in Thüringer Kommunen“ auf den Weg gebracht. Es wurde zu einem fulminanten Erfolg.

Gab es bis zum Schluss ein Zittern und Bangen, ob die unglaubliche Höhe an Unterschriften gemeistert werden kann, war es doch umso berührender, also rund 55.000 Unterschriften mehr als gefordert gesammelt werden konnten. Insgesamt kamen 250.982 Unterschriften zusammen. Meine persönliche Erfahrung am Abschlusstag in Erfurt auf dem Anger werde ich nie vergessen: die Schlangen vor den Unterschriftstischen wurden immer länger.

In einem Verhandlungsmarathon mit der Thüringer Landesregierung, vertreten durch den damaligen Ministerpräsidenten Dieter Althaus, gelang es dann, die Zulassungshürden zu senken und mehr partizipative Räume zu schaffen. Aber leider musste auch der Preis akzeptiert werden, dass der sogenannte Haushaltsvorbehalt in die Verfassung aufgenommen wurde. Die CDU war nur bereit, mehr partizipative Elemente, Straßensammlungen statt Amtsstubensammlungen etc. zu gestatten, wenn dafür im Gegenzug das Parlament der einzige Träger von Entscheidungen bleibt, die an Steuergelder gebunden werden. Dies erwies sich sehr bald schon als ein massiver Hemmschuh.

Zu dieser Zeit war es in Bayern längst gelungen, das Element von Volksbegehren und Bürgerbeteiligung zu stärken. In Bayern führte dies zu klugen Entscheidungen zwischen der Bevölkerung und den jeweiligen Kommunalvertretungen. Die Kultur von Volksbegehren und Bürgerbeteiligung in Bayern, anfänglich von der CSU bekämpft, ist heute zu einem gern genutzten Element des Ausgleichs geworden. Selbst Mitglieder der CSU scheuen sich nicht, Bürgerbefragungen oder Volksentscheide auf den Weg zu bringen.

In Thüringen blieb es dabei, dass der Haushaltsvorbehalt jeden Ansatz von Volksentscheiden schon im Keim erstickte. Das Volksbegehren für bessere Kindergartenbetreuung war ein großer Erfolg, aber letztlich blieb es „nur“ ein politischer. Die verfassungsrechtliche Hürde des Haushaltsvorbehaltes hätte das Volksbegehren nie genommen und deshalb war es klug, dass parteiübergreifend im Landtag zur Umsetzung der Ziele des Volksbegehrens dann einstimmige Beschlüsse von CDU, SPD und uns LINKEN getroffen wurden. Mehr Kindergartenplätze und bessere Kindergartenbetreuung sind heute noch ein Thema und partei- und fraktionsübergreifend war dies immer unstrittig, aber eben auch ein Erfolg einer vorangegangenen breiten Bürgerbeteiligung.

Haben die Wählerinnen und Wähler am 27. Oktober 2019 durch ihre aktive Wahlteilnahme dem Parlament ein hohes Vertrauen geschenkt, so ist es jetzt die Stunde des Parlaments, sich bei den Bürgerinnen und Bürgern, dem Souverän, erkenntlich zu zeigen.

Für mich als direkt gewählter Abgeordneter des Thüringer Landtags heißt das, dafür zu werben und aktiv daran mitzuwirken, Bürgerbeteiligung und direkte Demokratie zu stärken. Bereits in der letzten Legislatur gab es dazu Debatten im Landtag. Die CDU und ihr Fraktionsvorsitzender haben sich bei dieser Debatte für ein fakultatives Referendum stark gemacht. Die Koalitionsfraktionen haben einen Vorschlag zur Senkung der Hürden, zur Streichung des Haushaltsvorbehaltes und zur Vereinfachung von Einwohneranträgen vorgelegt. In den Parlamentsausschüssen wurde durch die Fraktionen bereits viel Arbeit geleistet. Letztlich kam es aber zu keiner Entscheidung im Parlament, sondern nur zu der Verabredung für die kommende Legislatur, einen Ausschuss für Verfassungsfragen gemeinsam auf den Weg zu bringen, um dann gemeinsam eine Lösung zu entwickeln.

Gegen einen solchen Ausschuss wäre nichts einzuwenden, wenn dieser nicht allein taktisch motiviert wäre, sondern zur Qualifizierung der Anträge genutzt wird. Es geht ja nicht nur um fakultative Referenden und Haushaltsvorbehalte, es geht um die Frage der Absenkung des aktiven Wahlalters bei Landtagswahlen oder auch neue Staatszielbestimmungen, wie etwa die Förderung des Ehrenamtes. Vielleicht ist jetzt auch die Stunde selbstbewusster Abgeordneter, die fraktionsübergreifend und sachorientiert, Anträge zu diesen Themen entwickeln. Im Bundestag gab es schon mehrfach Gruppenanträge zu verschiedenen Themenstellungen. Warum sollte das nicht auch im Landtag möglich sein. Alle, die Interesse an mehr Partizipation und mehr Entscheidungen durch Bürgerinnen und Bürger haben, können diese Anträge stellen und alle andere Abgeordnete können sich entscheiden, ob sie diese Anträge unterstützen.

Was wäre das für ein starkes Parlament, das selbstbewusst die Weichen stellt für mehr direkte Demokratie. Das war mein Traum zu einer Zeit, als ich noch nicht Mitglied einer Partei war und mit Ralf-Uwe Beck zusammen den Verein Mehr Demokratie e. V. in Thüringen gegründet habe. Das bleibt mein Traum auch nach fünf Jahren Regierungsarbeit, denn für mich war es eine bittere Stunde, beim Thema Gebietsreform als Ministerpräsident gegen ein Volksbegehren klagen zu müssen. Auch wenn ich die Argumente der Volksbegehrens-Initiatoren nicht geteilt habe, war es doch ihr Recht, Unterschriften zu sammeln und ich hätte mich gefreut, wenn dies zu einer Ergänzung in der Debatte um Gebiets- und Verwaltungsreform geführt hätte.

Der Haushaltsvorbehalt aus der Verfassung zwang uns als Landesregierung, gegen das Volksbegehren Klage einzureichen. Nicht das Volksbegehren, sondern die Klage der CDU-Fraktion beim Verfassungsgericht hat den Stopp der Kreisgebietsreform ausgelöst. Nicht aber, weil sich das Verfassungsgericht den Argumenten der CDU angeschlossen hätte. Nein, weit gefehlt, es hat einfach ein Beratungsprotokoll im Landtag gefehlt. Ein formaler Fehler führte zum Stopp der Kreisgebietsreform und nicht der Bürgerwille, auch nicht die Bürgerinitiative gegen die Gebietsreform und schon gar nicht die Argumente der Opposition, sondern lediglich das Fehlen eines Protokolls. Trotzdem sage ich, es war gut, dass die Landesregierung daraus Konsequenzen gezogen und nicht den Versuch unternommen hat, mit dem Kopf durch die Wand zu wollen. Die Konsequenz allerdings wäre jetzt, fakultative Referenden in die Verfassung aufzunehmen, den Haushaltsvorbehalt aufzugeben, das Mindestwahlalter auch bei Landtagswahlen auf 16 abzusenken, das Ehrenamt als Staatszielbestimmung in die Verfassung aufzunehmen und auch endlich die Kinderrechte in unserer Landesverfassung zu verankern.

Der neugewählte Thüringer Landtag hat nun die Chance, eine bessere Balance zwischen einerseits dem Souverän, den Bürgerinnen und Bürgern, und andererseits den Verfassungsorganen, dem Landtag, der Landesregierung und dem Verfassungsgericht, zu ermöglichen. Mehr Demokratie wagen. Jetzt ist die Stunde der Parlamentarier, Gesicht zu zeigen für mehr direkte Demokratie.

Und ein letzter Gedanke. Wie wäre es, wenn der Landtag eine Struktur schafft, an die sich Bürgerinnen und Bürger sich mit konkreten Vorschlägen wenden können. In vielen Kommunen sind Bürgerhaushalte geschaffen worden, bei denen Vorschläge eingereicht und in einem demokratischen Mitbestimmungsprozess diskutiert und entschieden werden. Die Werkzeuge dafür, die interaktiven Plattformen sind da, wir müssen sie nur einführen und nutzen. Das würde Menschen stärken, die ihre Ideen einbringen, mit anderen debattieren und der Landtag wäre gestärkt, weil er mit Sorge dafür tragen muss, dass aus Vorschlägen auch konkretes Handeln wird.

Und die Verwaltung muss befähigt werden, dass Transparenz, wie wir sie in der vergangenen Legislatur im Transparenzgesetz formuliert haben, auch echte Transparenz wird. Was nützt Bürgerinnen und Bürgern das beste Transparenzgesetz, wenn sie die Vorgänge, die dort eingestellt sind, nicht verstehen oder Tage brauchen, bis sie Antworten finden. Nehmen wir die Linkenmühlenbrücke. Es wäre doch schön, wenn auf einer Thüringenkarte im Internet die Bauvorhaben des Landes sichtbar wären und der Bürger den Status abrufen kann: Projekt, Planfeststellung, Bau, Fertigstellung. Niemand müsste mehr Mails schreiben oder lange Briefe, er könnte im Netz nachschauen.

So stelle ich mir ein Miteinander von Bürgerinnen und Bürgern, ihren Abgeordneten und der Verwaltung vor. Debattierend, im Dialog, entscheidend, umsetzend und für alle transparent. Packen wir es an.

Mein Credo lautet heute umso mehr:

Mehr Demokratie und weniger Parteibuch wagen!