Gedenken in Hildburghausen

Mein Dialogformat „Bodo Ramelow vor Ort – Persönlich. Politisch. Direkt.“ führte mich gestern nach Hildburghausen.

Gleich zu Beginn des dortigen Besuchs entstand ein sehr berührender Moment. Superintendent Johannes Haak empfing mich, um im Gedenken an die Opfer der Shoah und die Opfer des Anschlags von Halle, ein Blumengebinde an der Gedenktafel des historischen Rathauses niederzulegen, die an das Schicksal der letzten jüdischen Mitbürger erinnert. Hierzu verlas er ein jüdisches Totengedenken und ein Gedicht des deutsch-israelischen Journalisten und Religionswissenschaftlers Shalom Ben Chorin aus dem Jahre 1942: „Freunde, dass der Mandelzweig wieder blüht und treibt, ist das nicht ein Fingerzeig, dass die Liebe bleibt? Dass das Leben nicht verging, soviel Blut auch schreit, achet dieses nicht gering, in der trübsten Zeit.“ Shalom Ben Chorin hat diese Worte sehr bewusst gewählt, weil die Worte „Mandelzweig“ und „wachsam sein“ im Hebräischen eine gemeinsame Wurzel haben. Seine 2017 verstorbene Ehefrau, Avital Ben Chorin, Ehrenbürgerin der Stadt Eisenach, kannte ich persönlich. Ihre Tochter traf ich vor Kurzem in Eisenach, anlässlich der Ausstellungseröffnung über das Entjudungsinstitut. Ihr ganzes Leben lang haben Avital und Shalom Ben Chorin, die aus ihrer Heimat fliehen mussten, um zu überleben, sich als Brückenbauer zwischen Deutschland und Israel, zwischen Christen und Juden eingesetzt. Als Erste organisierte Avital Ben Chorin in den 50er Jahren Jugendaustausche zwischen jungen Jüdinnen und Juden und Westdeutschen. In diesem Kontext müssen wir die Vorfälle in Halle einordnen: Deren Ursachen kommen nicht „aus dem Nichts“, es handelt sich nicht um einen „Einzelfall“, sondern um einen antisemitischen Terrorakt, dem das Feindbild vom „ewigen Juden“ zu Grunde liegt. Zu der Bestürzung über die schreckliche Tat und die Trauer mit den Angehörigen kommt die tiefe Betroffenheit, dass Jüdinnen und Juden in unserer Gesellschaft heute wieder in Angst leben. Wir schulden der Familie Ben Chorin, wir schulden allen Opfern des Antisemitismus deshalb, diese Verantwortung sehr ernst zu nehmen. Auch, wenn wir das dritte Reich nicht persönlich zu verantworten haben, so haben wir doch die Verantwortung, hinzuschauen – als politische Verantwortungsträger, als Geistliche, als Mitglieder dieser Gesellschaft – egal ob in Ost- oder Westdeutschland. Der Angriff auf eine Synagoge ist auch ein Angriff auf uns – auf ein weltoffenes Land, auf unser Miteinander. Ich bin froh, dass wir heute in Hildburghausen in diesem Geiste zusammenstanden. Der Mandelzweig erinnert uns an unsere gemeinsame Verantwortung und unser gemeinsames Fundament.