Wagen wir dir Debatte

Die Ankündigung von Andrea Nahles nicht nur als Partei- und Fraktionsvorsitzende zurückzutreten sorgt bei mir nicht für Häme, sondern eher für Sorge. Dass Parteien in einer parlamentarischen Demokratie erodieren, muss für uns alle ein Warnsignal sein. Ein solcher Niedergang traditionsreicher Parteien ist anderswo normal, In Europa in manchen Ländern bekannt, für Deutschland ist es aber etwas vollkommen Neues. das deutsche Parteiensystem ist durch eine lange Kontinuität geprägt. Die Europawahlen haben diese Kontinuität offenbar beendet. Die politische Landkarte Deutschlands ist so bunt wie noch nie in unserer Geschichte. Ist der Westen eher grün gefärbt, so folgen lange schwarze Flächen bevor sich die Karte tief im Osten eher blau färbt. Dazwischen gibt es nur noch wenige rote Flecken. Sowohl SPD, CDU und auch meine Partei haben herbe Stimmenverluste hinnehmen müssen. Es gibt inzwischen keine klassische Volkspartei mehr, die das Land aus eigener Kraft gestalten könnte, ja selbst das „Große“ in der sogenannten Großen Koalition ist verschwunden. Die Bezeichnung „Groko“ trifft es nicht mehr.

Was vor wenigen Jahren noch unvorstellbar war, ist inzwischen Realität. Wir werden zunehmend Koalitionen in Ländern und im Bund haben, die von mindestens drei Parteien gebildet werden. In diesem Sinne ist Die Thüringer Landesregierung aus LINKEN, SPD und Grünen ist sicher beispielhaft und war damit Vorreiter oder besser noch Trendsetter.

Aber natürlich geht es nicht nur um die Kombination von verschiedenen Parteifarben, sondern es geht um die Erhaltung politischer Beweglichkeit, um damit staatspolitische Verantwortung übernehmen zu können. Damit meine ich nicht politische Beliebigkeit. wenn Parteien letztlich in ihren Inhalten völlig austauschbar und nicht mehr unterscheidbar sind, schadet das der gesamten demokratischen Kultur.

Deshalb ist es wichtig, beim Abschluss von Koalitionsverträgen deutlich zu machen, wofür man inhaltlich steht und welche Themen man in der Regierung politisch gestalten will. Themen, die zu bewegen sind, gibt es in diesem Land genug und die Menschen erwarten mit Recht, dass die politisch Handelnden, diese Themen aufgreifen und bearbeiten. Koalitionsverträge dürfen eben nicht nur die Summe mathematischer Mehrheiten darstellen oder einen Wust an Reparaturkompromissen produzieren, sondern sollten den Mut zeigen, wirklich nachhaltig etwas zu ändern. Ich möchte ein Beispiel nennen:

Gestern vernahm ich im Radio, dass die Zahl der Kinder, die von Hartz IV leben müssen, zurückgegangen sei. Das ist an sich eine an sich gute Nachricht, nur leider wurde dabei übersehen, dass dieser Rückgang allein auf dem Umstand beruht, dass Kinder, denen der Staat nun den Unterhaltsvorschuss gewährt, kein Hartz IV mehr beziehen. Sie sind deswegen keineswegs reicher. Es ist allein ein statistischer Effekt. Es geht also darum, Kinderarmut wirksam und nachhaltig zu bekämpfen. Warum sage ich das: Armut wirkt nicht nur ausgrenzend, sie prägt auch dauerhaft. Sie verbaut Kindern und Jugendlichen ihre Zukunft, sie stigmatisiert und ist eine Belastung für unsere gesamt Gesellschaft. Deswegen kämpfe ich für eine Kindergrundsicherung, die bürokratische Monster wie das Teilhabepaket oder den Unterhaltsvorschuss ablösen, bei denen Betroffene seitenlang Formulare ausfüllen müssen und die nur ein Mehr an Verwaltung produzieren. Fassen wir Kindergeld, Kinderfreibeträge und Ehegattensplitting endlich zusammen, um Geld für die Kindergrundsicherung zu generieren.

Nun also zieht sich Andrea Nahles aus der Politik zurück. „So brutal darf Politik nicht sein“, kommentiert Dietmar Bartsch auf Twitter. Recht hat er und ich möchte heute noch mal festhalten, dass ich durchaus nicht immer einer Meinung mit Andrea Nahles bin, dass ich mir aber immer sicher sein konnte, sie als Bündnispartnerin im Streiten für mehr soziale Gerechtigkeit an meiner Seite zu haben. Der Mindestlohn wäre ohne Andrea Nahles kaum Wirklichkeit geworden und besonders in Erinnerung wird mir unser gemeinsames Ringen um die Einführung von gemeinwohlorientierter Arbeit als Regelarbeit sein. Das gelang nur sehr beschränkt. Als Kompromiss wurde der Passiv-Aktiv-Transfer entwickelt. Sie konnte sich als Bundesarbeitsministerin nicht beim damaligen Finanzminister Schäuble durchsetzen, so dass Thüringen letztlich aus Landesmitteln 1.000 eigene Arbeitsplätze im gemeinwohlorientierten Bereich schuf. Dabei ist der Bedarf in diesem Bereich viel größer. Wenn beispielsweise die Teilnehmenden am Bundesfreiwilligendienst in Thüringen durchschnittlich die Ältesten in ganz Deutschland sind, dann macht das deutlich, dass gerade ältere Langzeitarbeitslose durchaus motiviert sind, in eine sinnvolle Beschäftigung zu kommen. Genau das ist auch der Grund, weshalb ich immer dafür werbe, dass wir die Armutsfalle von Hartz IV überwinden müssen.

Das wird uns dauerhaft nur gelingen mit einer aktiven Arbeitsmarktpolitik, mit der Stärkung des Tarifsystems und der Tariftreue und einem anständigen Mindestlohn.

Aber ein Sozialstaat muss auch finanziert werden und dafür hätte ich mir von Finanzminister Scholz deutlich mehr Akzente, auch auf europäischer Ebene gewünscht. Dass Amazon, Google und Apple im Durchschnitt in Europa weniger als 3% Steuern zahlen, ist ein Skandal. Damit ist das Steuersystem eben nicht gerecht für alle Marktteilnehmer. Der kleine Unternehmer, der Einzelhändler vor Ort zahlt seine Steuern, die großen Player drücken sich einfach. Amazon kanibalisiert den Markt und entzieht sich seiner Pflicht, seinen Anteil zu zahlen für gute Bildung, gesicherte Rechtswege, eine gute Gesundheitsversorgung und ausreichend Polizei. Wenn dann noch über „cum ex“ die Steuerzahler betrogen werden und bei „share deals“ Wohnungsbestände ohne Grunderwerbsteuer veräußert werden können, dann sind Menschen in unserem Land zurecht empört. Wer soll noch verstehen, wenn ein Milliardär Tausende Wohnungen in Berlin über viele Briefkastenfirmen in Luxemburg verwalten lässt und Mieter überhaupt nicht mehr wissen, an wen sie sich wenden sollen. Diese „Briefkästen“ sind für Mieter nicht erreichbar und obendrauf zahlen die auch fast gar keine Steuern. Der Mieter steht allein vor seinen Problemen und die Briefkästen mehren den Reichtum ihrer Eigentümer. Briefkastenkapitalismus hätte sich nicht einmal Karl Marx vorstellen können. Um Karl Marx mal etwas freier zu zitieren; „ihr habt nichts zu verlieren, außer den verantwortungslosen Briefkästen“.

In unserem Grundgesetz heißt es, dass Eigentum verpflichtet. Mancher ergänzt diesen Satz kreativ und sagt: „zu nichts!“. Das kann nicht sein, denn wir müssen immer fragen, wem nutzt ein starker Staat und wer profitiert von einem schwachen Staat. Schwache brauchen einen starken Staat, der sie stärkt aber manche Starken nutzen den schwachen Staat aus, um sich große Anteile davon noch privat unter den Nagel zu reißen.

Und deshalb brauchen wir weder das 27. Rentenreparaturpaket oder das 25. Mietenlenkungsgesetz, die beide keine Wirkung haben, sondern wir brauchen eine Debatte, wie wir unseren Sozialstaat gestalten wollen.

Beim Wohnungsthema wird das deutlich. Es geht nicht darum, die zweite Mietwohnung, die jemand für die Alterssicherung angeschafft hat, zu enteignen. Es geht darum, dass große Vermögensgesellschaften, die Wohnungen besitzen, mit einer echten Konkurrenz durch sozial gebundenes Wohnungseigentum zu konfrontieren. Starke kommunale Wohnungsunternehmen aber eben auch Genossenschaft, denen es nicht zuerst um die Rendite geht, sondern denen auch soziale Verantwortung wichtig ist.

Oder debattieren wir über ein Gesundheitssystem, bei dem die Patienten und nicht die Rendite an der Börse im Mittelpunkt stehen. Da sind wir auch schnell bei einer modernen solidarischen Bürgerversicherung, in die alle einzahlen, aus allen Einkunftsarten, getreu dem biblischen Motto: „Einer trage des Anderen Last und wer mehr tragen kann, bekommt auch etwas mehr auf seine Schulter.“

Über diese Themen konnte man vor 40 Jahren sogar noch mit der CDU debattieren. Da spielte die Christliche-Demokratische Arbeitnehmerschaft unter Norbert Blühm noch eine wichtige Rolle und die Katholische ArbeitnehmerInnenbewegung war als soziales Korrektiv verankert im rheinischen Kapitalismus. Aber davon ist eben nicht viel geblieben und spätestens mit der Politik von Gerhard Schröder, der den Neoliberalismus von Tony Blair nach Deutschland importierte, implodierte der alte westdeutsche Sozialstaat. Wer es noch nicht wusste, dem ist es seit dem 26. Mai klar: Die alte Bundesrepublik ist Vergangenheit. Was den Ostdeutschen schon seit dem 3. Oktober 1990 klar ist, sollte nun wohl in ganz Deutschland langsam und brutal klar werden.

Also geht es um einen Aufbruch, bei dem wir mit Willy Brandt mehr Demokratie wagen, auch mit Volksentscheiden auf Bundesebene, mit Norbert Blühm über eine Rente reden, auf die sich Menschen wirklich verlassen, ja letztlich mit Ludwig Erhardt die soziale Marktwirtschaft in ihrem sozialen Element wieder stärken. Diese politischen Fragen müssen wir wieder diskutieren.

Und dann lohnt sich auch die Debatte mit Kevin Kühnert über die Grenzen des privaten Eigentums und die Demokratisierung der Wirtschaft und natürlich auch mit den jungen Leuten von „Fridays for Future“, darüber wie wir endlich wirksam Klima und Umwelt schützen. In dieser Debatte geht es vor allem darauf, die gesellschaftlichen Alternativen auf den Tisch zu legen und zu debattieren.

Ist dann die Alternative der Schreihälse wirklich die Alternative, über die sich alle empören und die dann doch immer wieder allzu gern in jede Talkshow eingeladen wird?

Wir feiern in diesem Jahr den 70. Geburtstag unseres Grundgesetzes und den 30. Jahrestag des Falls der Mauer. Die Menschen in der DDR haben sich 1989 aufgemacht, ihren Weg zu gehen. Aber dann wurde ihnen mitgeteilt, dass sie nach Artikel 23 Grundgesetz beigetreten werden zur Bundesrepublik. Damit blieb der Artikel 146 Grundgesetz unerfüllt, von dem die Mütter und Väter des Grundgesetzes hofften, dass sich über ihn die Deutschen vereint, frei und selbstbestimmt eine Verfassung geben. Aus meiner Sicht steht dieser Auftrag noch immer.

Deswegen führe ich auch die Debatte darüber, wie wir unsere Demokratie und den Sozialstaat in einer Verfassung weiterentwickeln und stärken. Da geht es um Symbole, wie die Hymne, um Grundrechte und die Entwicklung direkter Demokratie auf Bundesebene. Aber weit über Symbole hinweg geht es um die Frage was unsere Gesellschaft mehr bedroht. Die anonymen Briefkästen und Weltkonzerne, die sich wie Sozialschmarotzer verhalten, oder eine Verfassung die den Satz vom „Eigentum verpflichtet“ in Wert setzt und dem leeren Wort der Marktwirtschaft wieder das echte Soziale als Bindung beistellt. 

Gehen wir also in die Debatte über die Zukunft unseres Landes, legen wir die gesellschaftlichen Visionen und Ideen auf den Tisch und diskutieren wir sie. Es wird Zeit, damit unsere Demokratie nicht ins Wanken gerät.