Das Eis ist dünn, auf dem wir uns bewegen

Am 26. März 2019 wurde in Weimar der Ehrenpreis „Löwenherz“ der Organisation „Human Project“ an einen besonderen Menschen verliehen. Claus Peter Reisch wurde geehrt. Man kennt ihn als den mutigen Kapitän der „Lifeline“ – diesem Schiff, das seit September 2017 versucht, Menschen in Seenot im Mittelmeer das Leben zu retten. Ich hatte die Ehre, die Laudatio auf Kapitän Reisch zu halten und möchte diese Zeilen nutzen, dazu ein wenig auszuführen – denn worum es hier am Ende geht, sind Themen die mich sehr bewegen.

Das Eis, auf dem wir uns bewegen, ist dünn. An kaum einem Ort wird das so offensichtlich wie in Weimar. Hier, wo vor 100 Jahren die deutsche Demokratie ihre ersten Schritte machte, wurden kaum 15 Jahre später hinter Stacheldraht und Wachtürmen tausende Menschen auf bestialische Weise zu Tode gequält. Nirgendwo liegen die Schönheit und die Grausamkeit der Moderne so nah beieinander. Vor 70 Jahren das Grundgesetz, als Grundlage unseres Gemeinwesens beschlossen. Und vor 30 Jahren überwanden die Menschen in der ehemaligen DDR den Zaun, diese Mauer, die sie jahrzehntelang für unüberwindbar gehalten hatten.

Doch schon bevor die Mauer fiel, als die Flüchtlinge aus der DDR in der ungarischen Botschaft in Prag ausharrten, als die Menschen auf der Suche nach einem besseren Leben über Gießen nach Westdeutschland kamen –begannen die Rufe: „Das Boot ist voll!“. Was war nicht alles für Gerede im Umlauf. Diese Menschen sollten mehr Miete bezahlen. Oder weniger Arbeitslosengeld erhalten. Die Bilder haben wir alle noch genau vor Augen. Ich erinnere mich noch ziemlich gut, dass das Magazin Der Spiegel schon 1992 genau mit diesem Satz, „Das Boot ist voll“, aufmachte, als die nächste Flüchtlingskrise – diesmal vom Balkan – uns erreichte. In 30 Jahren scheint sich da nicht viel verändert zu haben. Schon damals gab es diesen Konflikt. Schon damals wurden Menschen als nicht erwünscht gesehen. Das Eis ist dünn, auf dem wir uns bewegen.

Man muss sich diese Dinge bewusst vor Augen halten, um zu verstehen, warum der Einsatz von Menschen wie Claus Peter Reisch und den anderen Crewmitgliedern der Lifeline so unvorstellbar wichtig ist. Denn egal, ob es sich um Menschen aus Ostdeutschland, aus Afghanistan, dem Senegal oder sonst wo her handelt: es sind zunächst einmal Menschen. Und das Grundgesetz und die Weimarer Reichsverfassung, derer wir beide in diesem Jahr so huldigend gedenken, die wir ehren und auf die wir zurecht stolz sein dürfen, definieren es klar und unmissverständlich: Die Würde des Menschen ist unantastbar.

Man muss daher an die Geschichte erinnern, bevor wir uns an ihr verschlucken. Wir haben fast alles was wir dieser Tage auf dem Mittelmeer erleben schon einmal erlebt – zumindest die Älteren unter uns. Ich erinnere an die Irrfahrt der St. Louis aus dem Jahr 1939. Nach mehrmonatiger Überfahrt wurden den 937 Jüdinnen und Juden sowohl von Kuba, von den USA und Kanada die Aufnahme als Flüchtlinge verweigert. Das Schiff musste nach Europa zurückkehren. 873 der Passagiere gerieten dort innerhalb weniger Monate wieder in die Fänge der Nazis. Mindestens 250 fanden den Tod in den Konzentrationslagern.  Nur diejenigen, die man per Zufall an Großbritannien weitergereicht hatte, entgingen der Verfolgung gänzlich.

Ebenso können sich bestimmt noch viele an die Fahrt der Cap Anamur erinnern. Vielen Refugees aus Südvietnam im Chinesischen Meer rettete sie das Leben. Einem sturen Ministerpräsidenten, nämlich dem niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht – einem Christdemokraten wohlgemerkt – war es zu verdanken, dass vielen von ihnen, die als „Boatpeople“ in die Geschichte eingingen, Asyl in Deutschland gewährt wurde. 250.000 Vietnamesinnen und Vietnamesen sind auf hoher See in dieser Zeit ertrunken. Eine unvorstellbare Zahl. Ein unvorstellbares menschliches Unglück.

Und wenn wir heute an die Geschehnisse in Myanmar denken, an das, was gerade brandaktuell den Rohingya wiederfährt, dann müssen wir festhalten, dass die Frage darüber, wie wir mit Flucht und Vertreibung umgehen wollen, so aktuell ist wie nie zuvor. Aus unserer eigenen Geschichte sollten wir wissen, dass es eine Verpflichtung zur Rettung immer geben muss. Weil wir sonst die Menschlichkeit aufgeben würden, auf die auch viele Deutsche einst angewiesen waren. Daher müssen wir zu Lösungen finden und Verständigungen erreichen. In Deutschland, aber ganz besonders auch in Europa.

Zum Beispiel bräuchte es endlich eine Regelung, die die ungerechte und hochproblematische Dublin II Regelung ersetzt: das Flüchtlinge nämlich immer nur in dem Land innerhalb der EU Asyl beantragen können, dass sie als erstes betreten haben. Für die Länder, die nicht am Mittelmeer liegen, also ein feiner Deal. Mit europäischer Solidarität oder gemeinsamer Verständigung über Problemlösung hat das wenig zu tun. Weiterhin bedarf es eines gemeinsamen Programms von staatlicher Seite, das garantiert, dass Menschen, die auf dem Mittelmeer in akute Seenot geraten, ohne Wenn und Aber gerettet werden. Ich dachte immer, das seien die christlich-abendländischen Werte, die für uns eine Selbstverständlichkeit sein müssten.

Nun ist Kapitän Reisch mit dem Preis des Human Projects ausgezeichnet worden. Er steht damit in einer Reihe mit den Preisträgern der vergangenen Jahre wie Michail Gorbatschow und dem Dalai Lama. Und so schön diese Ehrung auch ist, wissen sowohl Herr Reisch als auch alle Beteiligten, dass sie vor allem eines wirklich benötigen: nämlich praktische Unterstützung. Von großen Reden können sie sich nichts kaufen. Keinen Schiffsdiesel, keine Verpflegung und keine Ausrüstung für ihre Missionen. Aber Menschen wie ich in der Politik können ihren Anteil dazu beitragen, dass Lösungsbereitschaft und die Bereitschaft, so gut es nur geht zu helfen, jeden Tag signalisiert werden – auch in Berlin bei der Bundeskanzlerin oder dem Bundesinnen- und Heimatminister. Wir dürfen unsere Stimme da niemals verlieren und ich werde niemals damit aufhören, genau dies dort zu tun.

Unser Auftrag, lautet, dass wir keine Menschen ertrinken lassen dürfen. Dafür – dass Humanität die Grundlage unseres Handelns ist – müssen wir kämpfen, mit erhobenem Haupt und geradem Rücken. 
Das alles steht in der Weimarer Reichsverfassung, das alles steht in unserem Grundgesetz. Aber wir erleben zu oft das Gegenteil. Dass gesagt wird: „Der Ausländer ist schuld. Das Boot ist voll. Und die Grundsteinlegung einer Moschee in Erfurt ist der Untergang des Abendlandes.“ Das in etwa ist die Tonlage der Diskussion, in der wir uns befinden.
Deswegen sage ich „danke“ an all die Menschen die jeden Tag da draußen ihr Gesicht hinhalten und dafür eintreten, dass der Flüchtling eben nicht Flüchtling – sondern immer zuerst Mensch ist. Und dass wir eine gemeinsame Verantwortung für unser gemeinsames Zusammenleben haben.

Während wir gestern feierten, erreichte uns die Meldung, dass das Seeschutzprogramm „Sophia“ vor der libyschen Küste eingestellt worden ist. Die Italienische Regierung und die anderen Europäischen Staaten waren nicht Willens, sich im Sinne der Humanität zu einigen. Das bedeutet das Sterben geht weiter. Es bedeutet aber auch, dass wir mehr denn je auf mutige Menschen wie Claus-Peter Reisch angewiesen sind, damit sich die Generationen die auf uns folgen werden, sich nicht dafür schämen müssen, dass ihre Mütter und Väter weggesehen haben, als das Mittelmeer ein Grab für tausende Menschen in Not wurde.