Wir brauchen ein umfassendes Konzept für Migration und Integration

Viele waren erstaunt, dass ausgerechnet Thüringen am vergangenen Freitag im Bundesrat den Antrag stellte, die Abstimmung zur Frage, ob die Maghreb-Staaten Algerien, Marokko und Tunesien sowie Georgien zu sicheren Herkunftsstaaten erklärt werden, zu verschieben. Inhaltlich hatte sich unsere Landesregierung an sich festgelegt, diesem Antrag nicht zuzustimmen. Unsere Haltung zu diesem Thema ist eindeutig und hat sich nicht geändert: Wir sind dem Konstrukt sicherer Herkunftsstaaten gegenüber an sich skeptisch, weil es am Ende dazu führen kann, das individuelle Recht des Einzelnen zu unterlaufen, seinen Antrag auf politisches Asyl mit der notwendigen Gründlichkeit zu prüfen. Hinzu kommt, dass alle vier Länder nicht hinreichend sicherstellen können, dass es dort nicht zu massiven Verletzungen individueller und kollektiver Menschenrechte kommt. Allein die Verfolgung Homosexueller in den Maghreb-Staaten wäre Grund genug, im Moment die Einstufung dieser Länder als „sichere Herkunftsstaaten“ abzulehnen.

Trotzdem habe ich am Freitag im Bundesrat für die Thüringer Landesregierung den Antrag gestellt, die Abstimmung zu diesem Tagesordnungspunkt zu verschieben. Das hat bei Manchem zu Verwunderung geführt und auch zu Kritik, weil Thüringen damit scheinbar verhindert hat, dass der Gesetzentwurf der Bundesregierung endgültig scheitert. Angeblich sei ausgerechnet das rot-rot-grün regierte Thüringen der Großen Koalition in dieser Frage zur Seite gesprungen. Und die Medien spekulierten, dass ich das Thema aus dem Wahlkampf raushalten wollen würde.

Mir geht es aber um etwas ganz Anderes. Weder habe ich Angst, im Wahlkampf über eine humane Flüchtlings- und Zuwanderungspolitik zu reden, noch ging es mir darum, für die Bundesregierung die Kohlen aus dem Feuer zu holen. Mich treibt um, dass wir uns in der Bundesrepublik um eine notwendige gesellschaftliche Debatte drücken, wie wir uns künftig aufstellen wollen. Sind wir bereit, uns der Herausforderung zu stellen, Zuwanderungsland zu werden und dafür die nötigen Voraussetzungen zu schaffen oder meinen wir weiter, dass uns Scheinlösungen helfen würden, an den eigentlichen Themenstellungen vorbeizukommen.

Werden wir konkret: 1.383 Menschen haben sich Ende Januar 2019 aus den vier betroffenen Ländern in Thüringen aufgehalten, davon waren zu diesem Zeitpunkt nur 133 vollziehbar ausreisepflichtig, also weniger als 10%. Von diesen 133 wiederum hatten 98 eine Duldung, bleiben also ganze 35 Personen, die wirklich ausreisepflichtig waren, also 2,5% der 1.383 insgesamt. Befassen wir uns also weiter mit 35 Personen in Thüringen und tun so, als seien die das große Problem oder kümmern wir uns um 1.350 Menschen und überlegen, welche konkreten Perspektiven wir Ihnen bieten können.

Ich bin schlicht dagegen weiter Scheinlösungen zu produzieren, die niemandem helfen, sondern nur neue Probleme schaffen. Die Einstufung der vier Länder zu sicheren Herkunftsländern hätte für die 98 Menschen mit einer Duldung bedeutet, dass sie von dem Moment an, das Recht verlieren, in Thüringen zu arbeiten. Wer kann das wollen? Niemand. Ich will nicht noch mehr Menschen in die Illegalität treiben, in inhumane Ausbeutungsverhältnisse, in eine Situation ohne jede Chance auf Integration.

Viele Menschen und Unternehmen in Thüringen sind inzwischen viel weiter als die politische Debatte. Ich darf darauf hinweisen, dass die Zahl der Beschäftigten nur noch aufgrund von Zuwanderung wächst. Der Anteil der deutschen Beschäftigten ist in Thüringen 2018 um 0,5 Prozent gesunken. Der Anteil der ausländischen Mitarbeiter stieg dagegen um 25 Prozent. Zurzeit arbeiten fast 40.000 Ausländer in Thüringer Unternehmen. Darunter waren vor allem Bürger aus anderen EU-Mitgliedsstaaten, aber auch rund 4.700 Flüchtlinge wie etwa aus Syrien. Dennoch: der Anteil der ausländischen Beschäftigten ist immer noch relativ niedrig. Im letzten Jahr lag er bei 4,9 Prozent. Der Bundesdurchschnitt liegt bei zwölf Prozent.

Und konkret: Ebenfalls letzte Woche ereilte mich der Hilferuf eines Thüringer Bauunternehmens. Ein Mitarbeiter, der aus einem sogenannten sicheren Herkunftsland stammt, arbeitet sei zwei Jahren in der Firma. Er steht für alles, was man erfolgreiche Integration nennen würde. Aber nun droht ihm die Abschiebung und dem Unternehmen der Verlust eines hervorragenden Mitarbeiters. Dieses Beispiel zeigt, dass wir endlich Lösungen brauchen, die Menschen Perspektiven bieten. Möglichkeiten und Chancen gibt es genug.

Das Asylrecht wird den wenigsten helfen aber andere Möglichkeiten gibt es in Deutschland derzeit kaum. Die Zugänge zu Ausbildung und Beruf sind eng limitiert. Es ist doch absurd, wenn ich Berufsausbildungszentren in Thüringen schließen muss, weil es kaum noch deutsche Azubis gibt und wir aber gleichzeitig vielen Jugendlichen die Chance geben könnten, einen Beruf zu erlernen, die deutsche Sprache zu lernen und damit Perspektiven zu schaffen. Nicht umsonst reise im April nach Vietnam, um auch darüber zu reden. Aber derzeit sind die bürokratischen Hürden dafür viel zu hoch.

Wer einen Asylantrag gestellt hat, kann den im Moment nicht zurücknehmen, ohne sein Aufenthaltsrecht zu verlieren. Wenn wir da endlich flexibel wären: Asylantrag zurückziehen und Arbeitserlaubnis erhalten. Bleiberecht statt Duldung. So wie es mit Kosovo und Albanien auch gelungen ist. Wer einen Arbeitsvertrag hat, der braucht auch keinerlei Asylverfahren. Wäre das für die Maghreb-Staaten nicht auch eine Lösung? Konzentrieren wir uns bitte auf pragmatische Lösungswege die humanitär sind, statt auf Scheinlösungen, die nur Menschen diskriminieren und auf Schikane gerichtet sind. Es ist Zeit über heilige Kühe und feste Dogmen neu zu reden! 

Wir brauchen einen Perspektivwechsel in diesem Bereich. In einer globalisierten Welt werden wir nicht umhin kommen, auch zuzulassen, dass Menschen sich aufmachen und für sich Lebensperspektiven außerhalb ihrer Heimat suchen. Das machen Deutsche so und warum wollen wir das anderen verwehren, noch dazu, wenn es einen Bedarf gibt. Und auf der anderen Seite ist es schlicht nicht mehr hinnehmbar, dass Menschen jahrelang warten müssen auf eine Entscheidung, ob Ihnen in Deutschland Asyl gewährt werden kann oder nicht. Und wenn der Entscheid negativ ausfällt, ist es aus meiner Sicht legitim zu schauen, ob es einen anderen Weg für diese Menschen gibt.

Deshalb habe ich am Freitag für eine Vertagung geworben, weil ich der Auffassung bin, dass es nicht reicht, einfach nur über einen Katalog irgendwelcher Staaten zu reden. Wir brauchen endlich eine ehrliche Diskussion über das Ausländer- und Flüchtlingsrecht insgesamt. Nur: Wenn man mit einem Dogma beginnt, dann kriegt man gar keine Verhandlungen. Ich habe deshalb die Hoffnung, dass wir es schaffen, vor allem gemeinsam mit Ländern, in denen die Grünen an der Regierung beteiligt sind wie Schleswig-Holstein, Sachsen-Anhalt und Hessen, über diese praktischen Fragen zu reden. Ich werde jedenfalls am Ball bleiben.