Ein Großer ist von uns gegangen!

Noch immer macht mich die Nachricht vom Samstag fassungslos. Wolfgang Nossen ist verstorben.

Obwohl ich um seine Krankheit wusste, obwohl wir oft auch über das Sterben sprachen, obwohl Wolfgang beim Kaffeetrinken die Frage beiläufig erwähnte, ob wir uns alsbald denn wieder sehen würden, obwohl er ab und an zwischen zwei Dialyseaufenthalten immer noch mal mit mir nach Berlin fuhr, obwohl, obwohl, obwohl.

Heute habe ich Gewissheit, Wolfgang Nossen ist von uns gegangen. Der Mahner und Ermunterer, der Gradlinige und manchmal auch der Grantelige. Mein väterlicher Freund hat die Augen zugemacht und muss sich mit seinem Körper nicht mehr quälen.

Der langjährige Vorsitzende der Jüdischen Landesgemeinde, Wolfgang Nossen, ist am Samstag im Alter von 88 Jahren verstorben. Wer sich den Lebensweg von Wolfgang Nossen ansieht, der wird an diesem Lebensweg all die Brüche und Unwägbarkeiten sehen können, die das Leben eines Juden im 20. Jahrhundert in Deutschland (und nicht nur da) mit sich brachte.

Wolfgang Nossen wurde 1931 in Breslau geboren, nur zwei Jahre vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten. Seine Kindheit war geprägt von der Verfolgung jüdischen Lebens, von alltäglicher Diskriminierung, von Vertreibung und ganz bestimmt auch von vielen Ängsten. Aber mit viel Zuversicht, Lebensmut, mancher guten Idee und sicher auch viel Glück überlebte er mit seiner Familie das Ghetto von Breslau. Nach dem Krieg musste er im Ergebnis des Krieges Breslau verlassen und sich auf den Weg nach Westen machen.

Wie so viele andere kam er nach Thüringen und wieder war es nicht seine Entscheidung, dass er hier die Schule beendete und an der Schule die Liebe seines Lebens kennenlernte. Elisabeth. Durch die Ankunft der 400 überlebenden Juden aus Breslau entstand auch in Erfurt eine aktive jüdische Gemeinde. In Erfurt selbst haben nur 15 Jüdinnen und Juden den Holocaust überlebt. Aber Wolfgang Nossen wollte nicht bleiben. Ihn zog es nach Israel, den neu entstehenden jüdischen Staat. Von Beginn seiner Ankunft in Israel arbeitete er für den neuen Staat. Er wurde Offizier der israelischen Armee und hoffte, dass Elisabeth ihm folgen würde, doch seine Briefe erreichten sie nicht. Der Eiserne Vorhang hatte Europa geteilt und Ost und West voneinander abgeschottet.

Immer wieder kam Wolfgang Nossen auch nach Deutschland, 1977 kehrte er nach 30 Jahren endgültig zurück, ohne wirklich Fuß zu fassen. Doch vorher wollte er noch einmal Erfurt sehen und seine Jugendliebe, so hoffte er und diesmal war das Glück ihm hold und er blieb in Thüringen, wo er mit Elisabeth ein spätes gemeinsames Glück fand, nach über 40 Jahren. Eine wahrlich europäische Geschichte.

„Jetzt bin ich zu Hause in Erfurt und so bleibt das. Meine bessere Hälfte ist mit Leib und Seele Thüringerin. Ohne ihren Thüringer Wald kriegt sie keine Luft. Und wir sind beide sehr zufrieden, über den Lauf des Schicksals.“

Ohne Wolfgang Nossen wäre die Entwicklung der Jüdischen Gemeinde in Thüringen nicht denkbar gewesen. Ein Mann voller Tatendrang, Energie, Lebensmut, Optimismus und Humor. Viel hat er in den Jahren von 1995 bis 2012 als Vorsitzender der Jüdischen Landesgemeinde erreicht. Aber Wolfgang Nossen war immer auch ein Mann klarer Haltung und Positionen. Von Beginn an hatten in Thüringen jene seine aktive Unterstützung und Solidarität, die sich aktive gegen alle rechtsextremen und antisemitischen Einstellungen und Haltungen, Aufmärsche und Demos stellten. Welch ein Schock muss es für ihn, der das Grauen des Holocaust erlebt und überlebt hatte, gewesen sein, als im April 2000 ein Brandanschlag auf die Neue Synagoge in Erfurt von Neonazis verübt wurde. Aber auch hier stand er unerschrocken gemeinsam mit vielen Erfurterinnen und Erfurtern und setzte ein Zeichen.

Und immer auch stand er an der Seite des Staates Israel, den er mit aufgebaut hat und den er immer wieder verteidigte, ohne immer einer Meinung mit den Regierenden dort zu sein.

Ein erfülltes Leben hat Wolfgang Nossen gehabt, ein spätes Glück gefunden. Nun hat es sich vollendet und wir werden sein Andenken bewahren.

Der Umgang der demokratischen Parteien im Verhältnis zu Nazis, zu Antisemitismus, zu gruppenspezifischer Menschenfeindlichkeit in Thüringen ist geprägt von Wolfgang Nossen. Nach dem Brandanschlag auf die Erfurter Synagoge hat er zum ersten Mal allen Parteivertretern gegenüber klar gemacht, was es heißt Haltung zu zeigen. Es fiel nicht allen leicht, aber der Anschlag auf die Synagoge hatte eine große Wirkung. Mit Dank schauen wir in Thüringen auf einen Menschen der es geschafft hat, alle zum Zusammenstehen zu bringen. Ja, ein wirklich Großer ist von uns gegangen.

Nur einen Herzens Wunsch konnte ich Wolfgang leider nicht erfüllen und das grämt mich. In Breslau wurden durch das Abraham Geiger Kolleg 2014 drei Kantoren und vier Rabbiner ordiniert und Wolfgang als aktiver Förderer des Kolleg und gebürtige Breslauer hatte den großen und verständlichen Wunsch dabei zu sein. Ich versuchte alles und nutzte alle Kanäle um den Wunsch zu ermöglichen. Der Bundesaußenminister Steinmeier würde dabei sein und ich kurbelte so lange, bis ich die Zusage bekam, dass Wolfgang in die Maschine des Außenministers darf. Er saß fertig angezogen in Erfurt und mein Wagen sollte ihn nach Berlin bringen. Leider kam die Zusage erst, als klar war, dass wir es nicht mehr nach Berlin schaffen werden. Ausnahmsweise flog die Flugbereitschaft und sogar pünktlich, aber Wolfgang konnte nur in Gedanken dabei sein. Es war und blieb die einzige Ordination ohne Wolfgang und ohne mich. Sonst waren wir immer zusammen dabei. Aber ab jetzt muss ich mich daran gewöhnen, Wolfgang bei diesen und vielen anderen Anlässen nur noch in Gedanken bei mir haben zu können. Tschüss Wolfgang und Danke!

Zumindest lege ich Dir ein Stein aufs Grab.

„Baruch dayan ha‘emet“