Ehre und Verpflichtung

Der vergangene Montag war für mich ein ganz besonderer.

Am Vormittag hatte ich Gelegenheit, meiner Amtsvorgängerin, Christine Lieberknecht, zu ihrem 60. Geburtstag zu gratulieren. Christine Lieberknecht hat sich in vielfältiger Weise um den Freistaat Thüringen verdient gemacht. Sie war Ministerin, Präsidentin des Thüringer Landtags und von 2009 bis 2014 Ministerpräsidentin unseres Freistaates. Wir haben immer auf Augenhöhe zusammengearbeitet und viele Themen konnten wir im Landesinteresse gemeinsam voranbringen. Daneben engagiert sie sich in einer Reihe von Funktionen ehrenamtlich, etwa als Präsidentin des Landesverbandes Thüringen im Verband Deutscher Gebirgs- und Wandervereine e. V..

Besonders wichtig ist aber, dass sie immer eine verlässliche Partnerin war, wenn es darum ging, sich aktiv und engagiert gegen alle Formen von Rassismus und Antisemitismus zur Wehr zu setzen. Hier gab und gibt es immer große Übereinstimmung. Es verbindet uns die Leidenschaft des Wanderns und unsere evangelische Bindung als fröhliche Christenmenschen.

Damit kann ich den Bogen schlagen zu einem Ereignis des gestrigen Abends, das mich ganz persönlich betraf.

Die Union Progressiver Juden zeichnete mich gestern in Erfurt mit dem Israel-Jacobson-Preis aus. Für mich war und ist das eine große Ehre.

In der Begründung heißt es: „Der Ministerpräsident des Freistaats Thüringen erhält die Auszeichnung in Anerkennung seiner großen Verdienste für das liberale Judentum und die akademische Rabbinerausbildung in Deutschland. Wir danken ihm für die Stärkung der akademischen Kantorenausbildung des Abraham Geiger Kollegs mit der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar. Ohne seine Initiative wären die ACHAVA Festspiele Thüringen nicht möglich gewesen. Wir würdigen sein Bekenntnis und seine Liebe zum Staat Israel im Einklang mit seinen Nachbarn.“

Ich habe mich gefreut, dass so viele Freunde und Wegbegleiter gestern gekommen sind, um an der Würdigung teilzunehmen. Gestern abend habe ich gesagt, dass ich diese Auszeichnung auch stellvertretend für jene entgegennehme, ohne die jüdisches Leben und eine lebendige jüdische Kultur in Deutschland und Thüringen, nicht denkbar wäre. Ob das Engagement der Jüdischen Landesgemeinde mit Reinhard Schramm an der Spitze, ob der Einsatz von Martin Kranz und seinen Mitstreitern bei ACHAVA, die Arbeit von Christoph Stölzl als Präsident der Hochschule für Musik Franz Liszt in Weimar und natürlich mein Freund Rabbiner Walter Homolka, der sich am Abraham-Geiger-Kolleg um die Ausbildung von Rabbinern kümmert.

Für mich ist es eine Selbstverständlichkeit, dass Religionsfreiheit nur dann besteht, wenn die Religionen diese auch leben und leben können. Dazu gehört die Ausbildung von Rabbinern ebenso wie das Recht für Muslime, Moscheen bauen zu können. Besonders am Herzen liegt mir dabei auch der Dialog zwischen den Religionen und der Austausch, auch um Vorurteile und Ressentiments abzubauen. Deswegen freue ich mich, dass eine Gruppe von jüdischen und muslimischen Jugendlichen gemeinsam nach Auschwitz fährt und das Konzentrationslager dort besucht. Eine aktive Erinnerungskultur ist für mich Voraussetzung dafür, dass sich der Holocaust nie wiederholt.

Deswegen ist die Verleihung des Israel-Jacobson-Preises mir vor allem Verpflichtung nicht nachzulassen darin, für Religionsfreiheit für alle Religionen zu streiten.

Und ja, mir ist die sichere Existenz des Staates Israel, eine Herzensangelegenheit. Gerade als Deutscher fühle ich eine besondere Verpflichtung, immer wieder darauf hinzuweisen, dass die Gründung des Staates Israel auch Folge des Holocaust war. Und wir dürfen nie vergessen, dass seit nunmehr 70 Jahren Israel ein demokratischer Staat ist, was mich nicht hindert, Regierende auch zu kritisieren, wenn das notwendig erscheint. Und selbstredend steht meine klare Haltung zum Existenzrecht Israels nicht im Widerspruch zur Gründung eines Staates Palästina, so lange dieser nicht Israel in Frage stellt.

Gerade die Ereignisse der letzten Wochen haben deutlich gemacht, dass wir auch in Deutschland immer wieder Grund haben, uns mit antisemitischen Einstellungen auseinanderzusetzen. Wenn Menschen verfolgt werden, weil sie eine Kippah tragen, dann ist das eine, dass ich jede Aktion unterstütze, die das Recht betont, seine Religion auch mit Symbolen (egal ob Kreuz, Kippah oder Kopftuch) zu verbinden aber wichtiger ist noch, dass wir immer über das grundsätzliche Recht auf Freiheit der Religionsausübung aufklären, dass ein Grundrecht in unserem Land ist und von niemandem in Frage gestellt werden darf.

Danke also nochmals für diese Ehre, die mir Ansporn und Verpflichtung ist. Und mein persönlicher Dank an Charlotte Knobloch und ihre beeindruckende Laudatio, die ich den Leserinnen und Lesern meines Tagebuches hier angefügt habe.

Laudatio von Charlotte Knobloch

Rabbiner Homolka hat eingangs das Werk und die Wirkung von Israel Jacobson geschildert. Die Berliner Gedenktafel, die sich seit 2010 in der Burgstraße gegenüber vom Berliner Dom befindet, würdigt ihn als Begründer des liberalen Judentums, als einen der Wegbereiter der jüdischen Emanzipation in Deutschland und einen Erneuerer des jüdischen Schulwesens. Nun repräsentiere ich nicht das liberale Judentum, aber gesellschaftliches Engagement und jüdische Bildung – sind auch mir Herzensanliegen. Und Praktiker, die zum Wohle der jüdischen Gemeinschaft handeln, sind hervorzuheben und zu honorieren – damals wie heute.

Daher freue ich mich, dass mit Rabbiner Professor Homolka heute zugleich ein weiterer Jacobson-Preisträger unter uns ist, der wesentlich zur Konsolidierung des Judentums in Deutschland in seiner ganzen Vielfalt beigetragen hat. – Uns verbindet wahrlich mehr als unsere bayerische Herkunft. Ganz besonders berührt es mich, Frau Sylvia Ehrlich aus der Schweiz wiederzusehen. Ihr hoch geschätzter verstorbener Mann ist Namensgeber des Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerkes, des jüdischen Begabtenförderwerkes, dem ich als Schirmherrin verbunden bin.

Auch Sie, verehrter Herr Ministerpräsident Ramelow, unterstützen die Konsolidierung der jüdischen Gemeinschaft mit aller Kraft. So werden Sie heute gerade auch wegen Ihrer großen Verdienste für die akademische Rabbinerausbildung am Abraham Geiger Kolleg ausgezeichnet. Ich erinnere mich an unser Gespräch dazu im November 2014, am Rande eines Festakts im Berliner Centrum Judaicum. Anlass war das 15-jährige Bestehen des Abraham Geiger Kollegs. Zu dieser Erfolgsgeschichte gehört auch die Stärkung der Kantorenausbildung des Kollegs durch die Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar. Wussten Sie, verehrte Anwesende, dass nach Jerusalem der weltweit zweite Lehrstuhl für die Geschichte der Jüdischen Musik hier in Thüringen besteht? Der Lehrstuhlinhaber, Professor Nemtsov, kann leider nicht unter uns sein. Er hat für vier Monate den Ruf als Fellow nach Haifa angenommen. Wir freuen uns, dass der Präsident der Weimarer Hochschule für Musik, Professor Stölzl hier ist – auch wir kennen einander aus München.

Doch zurück, meine sehr verehrten Damen und Herren, zu Israel Jacobson. Auf eine wichtige Tatsache, hoch geschätzter Herr Ministerpräsident, kommt die Gedenktafel in der Burgstraße nicht zu sprechen: Jacobson war Kaufmann – so wie Sie. Nach Ihrer Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann bei Karstadt waren Sie dort und in anderen Unternehmen als Mitarbeiter und bald als Filialleiter tätig. Im Wendejahr 1989/90 wurden Sie von der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen von Hessen nach Thüringen geschickt, um den Aufbau freier Gewerkschaften voranzutreiben. – Freiheit war, ist und bleibt eine Triebfeder Ihres Denkens und Handelns. Doch waren Sie in Thüringen nicht nur mit dem Aufbau der Gewerkschaften beschäftigt. Sie gaben auch den Impuls für den ersten Arbeitgeberverband des Handels in der DDR: dem
damaligen „Verband Thüringer Kaufleute.“ Darauf machten mich zwei Ihrer damaligen Verhandlungspartner aufmerksam, Nils Busch-Petersen und Heinz Rotholz vom Handelsverband Berlin-Brandenburg. Auch Sie sind hier – herzlich willkommen. Beide schildern Sie als herausragenden Tarifpolitiker beim Aufbau der Sozialpartnerschaft in Ostdeutschland. Sie, verehrter Herr Ramelow, waren zunächst Verhandlungsführer der Gewerkschaft HBV bei den gemeinsamen Tarifverhandlungen des Einzelhandels in Thüringen und 1995 dann HBV Verhandlungsführer für ganz Ostdeutschland. Das Ergebnis war die Vereinbarung zur Tarif-Angleichung von Ost und West. Aus jüngster Zeit sind Ihre Erfolge als Schlichter im Tarifkonflikt bei der Bahn in Erinnerung. Die Tageszeitung schrieb über Sie – ich zitiere: „Streit ist Ramelows Art, Nähe zu suchen.“ – Das trifft es: Sie kämpfen sich nicht an einem Feindbild ab, sondern streiten mit Ihrem Gegenüber um die Sache. – Gerechtigkeit war, ist und bleibt eine Triebfeder Ihres Denkens und Handelns.

Ausgleich und soziale Gerechtigkeit – Stichworte, die mich wieder den Bogen zu Israel Jacobson schlagen lassen. Der Kaufmann engagierte sich zeitlebens dafür, wenngleich unter anderen Vorzeichen. Ein Vielfaches seiner Haushaltskosten gab er für mildtätige Zwecke aus ̶ für Christen und Juden – und trug so zum Gemeinwohl bei. Er führte Armenstiftungen ein, kümmerte sich um unentgeltliche ärztliche Hilfe und Medikamente für Mittellose, stiftete Bücher und erhöhte die Gehälter von Lehrern. In einem Nachruf der Berliner Zeitung hieß es 1828, dass es ihm stets darum ging, das Wohl seiner Mitmenschen zu fördern. Dieses tatkräftige Eintreten für die Verbesserung der Welt nennen wir auf Hebräisch „tikkun olam“ – oder auf Neudeutsch: „social action“. Sie selbst, verehrter Herr Ministerpräsident, haben seit Ihrer Kindheit erfahren, wie wichtig soziales Mitdenken ist. Sie sind 1956 in Niedersachsen geboren, protestantisch aufgewachsen und geprägt. Ihr Geburtsort Osterholz-Scharmbeck, rechts der Weser oberhalb von Bremen, war mir nicht sofort ein Begriff. Zu meiner Entschuldigung sei gesagt, dass es den Ort zurzeit von Jacobson so noch nicht gab. Allerdings haben beide Ortsteile eine jüdische Geschichte – und auch ein bisschen Jacobson: Die Gegend gehörte für drei Jahre zum Königreich Westphalen, dem napoleonischen Modellstaat, in dem er zu einem Begründer des liberalen Judentums wurde – Rabbiner Homolka hat davon berichtet. Ihr Kirchenaustritt und Ihr Wiedereintritt hatten jeweils auch mit gesellschaftspolitischen Fragen zu tun. Der Grundsatz „Religion muss immer Teil der Lösung und nie Teil des Problems sein!“ begleitet Sie durch Ihr Leben.

Dabei betonen Sie, dass die drei abrahamitischen Religionen – Judentum, Christentum und Islam – nicht gegen Aufklärung und Humanismus stehen, sondern dass dies zusammen gedacht werden muss. Was Ihre persönliche Haltung betrifft, lassen Sie Adolf Grimme für sich sprechen, Namensgeber des berühmten Fernsehpreises. Er prägte den Satz – ich zitiere: „Ein Sozialist muss kein Christ sein, aber ein Christ muss Sozialist sein.“ Grimme gehört zu den vielen religiösen Sozialistinnen und Sozialisten, die aus einer langen Tradition heraus ihr Engagement für eine gerechtere Gesellschaft mit der hebräischen Bibel begründet haben, mit dem sozialen Auftrag unserer Propheten. Der Satz am Nordportal der Synagoge von Seesen, die Israel Jacobson 1810 eröffnete, dürfte Ihnen aus dem Herzen sprechen: Es handelt sich um Verse des Propheten Maleachi – Zitat: „Haben wir nicht alle einen Vater? Hat uns nicht ein Gott geschaffen?“ – Zitat Ende.

Eintracht zwischen den Religionen war Jacobsons Ziel – nicht jedoch eine Vermischung oder die Auflösung der Grenzen zwischen ihnen. – Respekt voreinander und Respekt füreinander, das ist auch Ihr Anliegen. So forderten Sie etwa 2009 – ich zitiere: „Wir brauchen eine Solidarität der Religionen!“, als die NPD zu sogenannten Mahnwachen vor den Thüringer Moscheen aufgerufen hatte, um Stimmung gegen Muslime zu machen. Auch nach Ihrer Wahl zum Ministerpräsidenten des Freistaats Thüringen im Dezember 2014 machten Sie immer wieder deutlich, dass Rassismus, Antisemitismus und Ausländerfeindlichkeit in unserer Gesellschaft keinen Platz haben. Erst vor ein paar Tagen haben Sie sich selbstverständlich als einer der ersten dem Appell anschlossen, in Erfurt Kippah zu tragen, öffentlich und öffentlichkeitswirksam. Sehr verehrter Herr Ministerpräsident, beim Blick auf Ihre Biografie hat mich eines besonders überrascht: Sind Sie wirklich erst 1999 in die Politik gegangen? – Damals traten Sie der PDS bei, zogen alsbald in den Thüringer Landtag ein. Gelegentlich erinnern Sie Ihre Genossen, dass manche sozialistische Idee ihren Ursprung in den universellen jüdischen Werten hat. So verweisen Sie darauf, dass das Wissen über Moses Hess, einen bekennenden Juden und Vordenker von Karl Marx, fast verloren gegangen sei.

Nachdem ich den Anfang Ihrer politischen Kariere eruiert hatte, fragte ich mich, wann wir uns zum ersten Mal persönlich begegnet sind. – Es dürfte während Ihrer Zeit als Bundestagsabgeordneter der Partei Die Linke gewesen sein. Von 2005 bis 2009, waren Sie der Religionspolitische Sprecher Ihrer Fraktion. Sehr schnell kam dann der Kontakt zum Abraham Geiger Kolleg an der Universität Potsdam zustande. 2006, als in Dresden zum ersten Mal in der Bundesrepublik wieder Rabbiner ordiniert wurden, stellten Sie in Ihrem Grußwort fest – ich zitiere: „Die jüdische Kultur ist von jeher ein fester Bestandteil der deutschen Kultur gewesen.“ Mit dieser unbestreitbaren Erkenntnis sind Sie bis heute einigen weit voraus. Sie sagten damals des Weiteren – ich zitiere: „Dennoch müssen wir auch weiterhin die alten und neuen Formen des Antisemitismus aufdecken und bekämpfen. Bedauerlicherweise gehört der Antisemitismus zur deutschen Geschichte.“ Auch damit sind Sie leider vielen um einiges voraus. Gerade mit der Benennung, Verurteilung und Ächtung der neueren Formen von Antisemitismus üben sich zu viele in Politik, Bürgerschaft und Medien in großer Zurückhaltung – um nicht zu sagen: Doppelzüngigkeit.

Wissen wir doch alle, dass Antisemitismus zu unserer Wirklichkeit gehört. Sie selbst, verehrter Herr Ministerpräsident, sind dem Thema auf vielfache Weise begegnet und haben sich stets mit der jüdischen Gemeinschaft solidarisiert. Sie beziehen auch in stürmischen Diskussionen Position und sind den Gegnern der rituellen jüdischen Beschneidung von Jungen ebenso mit guten Argumenten begegnet wie den Befürwortern eines Schächtverbots – nämlich in beiden Fällen im Sinne der Religionsfreiheit. Verehrte Anwesende, sehr geehrter Herr Ministerpräsident, wie dünn das Eis ist, auf dem wir uns beim Thema Antisemitismus bewegen, wurde Ihnen deutlich, als Ihre Staatskanzlei 2016 mitteilte, dass Sie auf dem traditionellen Weimarer Zwiebelmarkt koschere Bratwürste präsentieren wollten. Da sprang Ihnen in den sozialen Medien der blanke Hass entgegen. Ein Hass, der mir persönlich, den jüdischen Gemeinden und Bürgerinnen und Bürgern nur allzu bekannt ist. Die Situation in unserem Land erfordert klare Worte. Denn es ist nicht nur der Antisemitismus, der uns, wie wir hier sitzen, umtreibt. Unsere freiheitliche Demokratie muss sich wie nie zuvor seit 1945 bewähren.

Pegida hat der AfD den Weg in 14 Landtage geebnet – Tendenz steigend. Als drittstärkste Kraft – mancherorts schon mehr – sitzen nun Rechtsextreme im Bundestag. Eine Zäsur. Gera ist vergangene Woche nur haarscharf an einem AfD-Oberbürgermeister vorbeigekommen. Wir erleben eine regelrechte braune Renaissance, die ganz Europa erfasst hat. Rechtsextremismus, Rassismus, Antisemitismus, Homophobie, verbale und tätliche Gewalt gegen vermeintlich andere gehören inzwischen in Deutschland zum Alltag. Ich frage mich mit Blick auf unsere Erinnerungskultur: Wo, wenn nicht in unserem Land mit unserer singulär schrecklichen Geschichte, muss es gelingen, die Menschen zu immunisieren, ihnen vor Augen zu führen, wohin Hass, Wahn und menschenverachtende Ideologien führen, und dass am Ende jeder Opfer sein kann? Wem, wenn nicht uns Deutschen, muss es gelingen, die Anfälligkeit gegenüber Hass und Verachtung zu überwinden? Das ist unser Anspruch. Wenn wir unsere Werte und Überzeugungen, unsere freiheitliche Demokratie bewahren wollen, müssen wir uns als wehrhafte Patrioten bewähren. Dabei spielt der Begriff Heimat, den es so nur in der deutschen Sprache gibt und der gerade für jüdische Menschen eine immense Bedeutung hat, eine zentrale Rolle.

Verehrte Anwesende, meine Biografie trägt den Titel „In Deutschland angekommen“. Dahinter setzte ich bis vor kurzem ein dickes Ausrufezeichen. Aber auch mir wurde zuletzt schmerzlich bewusst, dass diese Gewissheit wankt. Gemeindemitglieder wenden sich mit Ängsten an mich – und ich bin nicht in der Lage, sie aus innerer Überzeugung heraus zu widerlegen. Ich teile die Zweifel. Unser Land hat in den letzten Jahrzehnten Herausragendes geleistet und errungen. Die Bundesrepublik ist eine tragfähige Demokratie, ein vorbildlicher Rechts- und Sozialstaat. Wir haben allen Grund, unsere Heimat zu lieben. Aber niemals dürfen wir vergessen, wie schnell die dünne Decke der Zivilisation reißen kann. Der Blick zurück, der zugleich eine Perspektive darstellt, macht bewusst, wie verletzlich
Freiheit ist, wie behutsam wir mit Demokratie umgehen müssen – mit unserer Heimat. In diesem Zusammenhang möchte ich einige weitere Themen nennen, die Ihnen, hoch geschätzter Herr Ramelow, wichtig sind. Dazu gehört die Erinnerung an die von der Erfurter Firma Topf & Söhne geleistete logistische Unterstützung der Vernichtung von Juden und Jüdinnen in der Schoa, außerdem die Erinnerungsarbeit in der Gedenkstätte Buchenwald und in Mittelbau-Dora bei Nordhausen. Dazu gehört aber auch die kritische Aufarbeitung der Serienmorde des NSU. Und obwohl sich die politische und gesellschaftliche Stimmung auch hier in Thüringen nach rechts verschoben hat, ist Ihr Kurs, sehr verehrter Herr Ministerpräsident, erfolgreich. Laut der letzten Umfragen vertraut die Hälfte der Thüringer Ihnen, nur neun Prozent Herrn Erinnerungspolitische-Wende-um-180-Grad Höcke – ein Hoffnungsschimmer. Bitte erlauben Sie mir an dieser Stelle, noch einer weiteren Persönlichkeit meinen tief empfundenen Dank auszudrücken:

Sehr verehrte Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags, Frau Petra Pau, Sie sind eine außergewöhnlich gute, verlässliche Freundin an der Seite der jüdischen Gemeinschaft. Ihre entschiedene Haltung, Ihre Unbeirrbarkeit im Kampf gegen alle Varianten des Antisemitismus und alle Formen von Diskriminierung sind bemerkenswert. Ich danke Ihnen von Herzen und freue mich sehr, dass Sie heute mit uns in Erfurt sein können.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Antisemitismus, gegen den sich Menschen wie der heutige Preisträger Bodo Ramelow und Petra Pau seit vielen Jahren stemmen, hat gesamtgesellschaftlich erst in jüngster Zeit die ersehnte Aufmerksamkeit erhalten. Die Sensibilität für das enorme Problem kommt spät, sehr spät – hoffentlich nicht zu spät. Viel zu lange hat man unsere Sorgen und Warnungen nicht erhört, haben Politik, Lehrer, Justiz, Verbände und Zivilgemeinschaft unsere Ängste nicht ernst genommen – und schon gar nicht zu den ihren gemacht. Dabei geht es genau darum. Der Kampf gegen Antisemitismus muss endlich als das begriffen und geführt werden, was er ist: Der Kampf aller für die Demokratie und Freiheit aller Bürger.

Damit, verehrte Anwesende, lassen Sie mich noch kurz auf ein Thema zu sprechen kommen, das Bodo Ramelow wie uns allen ebenfalls sehr am Herzen liegt: auf Israel, das dieser Tage 70 Jahre Unabhängigkeit feiert. Denn auch die Solidarität mit dem demokratischen, jüdischen Staat ist im ureigenen Sinne der Bundesrepublik als Demokratie, als Teil der freien Welt. Bei der Vorbereitung auf diesen Abend bin ich auf einen Schnappschuss von Ihrer ersten Israel-Reise gestoßen, verehrter Herr Ministerpräsident – es entstand vor zehn Jahren, 2008. Es zeigt Sie ganz privat in Jerusalem: im Gespräch mit dem alten sowie mit dem neuen Lateinischen Patriarchen. Eher ungewöhnliche Urlaubsbekanntschaften – aber wie gesagt:

Ihnen liegt an Ihrem Gegenüber. Sie kennen keine Berührungsängste, suchen stets das Gespräch. Dafür schätze nicht nur ich Sie. Dafür werden Sie in Politik und Gesellschaft geschätzt und geachtet – weit über die Grenzen Ihrer Partei, weit über die Grenzen Thüringens hinaus. Vor zehn Jahren, als das Foto entstand, waren Sie bereits Religionspolitischer Sprecher Ihrer Partei im Bundestag. Sie trafen damals den Bürgermeister von Tel Aviv, Ron Huldai, und den Minister für Soziales und Wohlfahrt, Issac Herzog, aber auch Anat Hoffmann, die Streiterin für egalitäre Gottesdienste an der Klagemauer in Jerusalem. Dazu kam auch die Begegnung und dann die Freundschaft mit Avital Ben-Chorin, der Wegbegleiterin und Witwe von Schalom Ben-Chorin, dem israelischen Schrift-steller und liberalen Religionsphilosophen, der immer auch ein Münchner blieb. Als Avital Ben-Chorin letzten Herbst verstarb, waren Sie unter den ersten, die der Familie kondolierten. Nicht nur, weil sie gebürtige Thüringerin war und Ehrenbürgerin von Eisenach, sondern aus persönlicher Verbundenheit. Die Begegnungen mit ihr haben Sie nach eigenem Bekunden geprägt. Ich darf Sie zitieren: „Mich hat das tief beeindruckt und ermutigt, nicht nachzulassen darin, dass wir in Deutschland immer wieder daran erinnern müssen, was der Faschismus für viele Menschen bedeutet hat. Ohne diese aktive Erinnerungskultur wird die Aussöhnung nicht gelingen.“ – Zitat Ende.

Was Israel betrifft, sprang der Funke sofort über: 2012 und 2014 waren Sie wieder dort, und Ihre erste offizielle Auslandsreise als Ministerpräsident des Freistaats Thüringen führte Sie 2015 ins Heilige Land. – Ein Besuch aus innerer Überzeugung, ein Zeichen. Sie verweigerten damals dem Auswärtigen Amt den parallelen Besuch der Westbank – ein ungewöhnlicher Vorgang, den man aber offenbar durchsetzen kann, wenn man will. Sie haben es bewiesen. In diesen Wochen der Feierlichkeiten zum 70. Jahrestag tut es auch uns Juden in unserer deutschen Heimat gut, zu wissen, dass Israel aufrichtige und kämpferische Freunde hat. Ein Glücksfall ist, dass Ihre geschätzte Gattin, Germana Alberti vom Hofe, Ihre Zuneigung zu Israel, den Menschen dort sowie Ihr Interesse am Judentum teilt und Ihnen auch insofern zur Seite steht. Ich darf auch Ihnen, liebe Frau Alberti vom Hofe, ganz herzlich für Ihr persönliches Engagement danken.

Und, verehrte Anwesende, das Engagement dieser beiden ist vielfältig. Dazu gehört auch Ihr Einsatz für die Anerkennung von Erfurts jüdischem Erbe als UNESCO-Weltkulturerbe. Die Alte Synagoge, die Mikwe und der jüdische Kulturschatz sind Kostbarkeiten – wobei Sie daran erinnern, dass es sich bei dem Erfurter Schatz eigentlich um Raubgut von jüdischen Bürgern aus dem Mittelalter handelt und dass Synagoge und Mikwe über Jahrzehnte vernachlässigt und vergessen waren. In Israel liegt Ihnen speziell Haifa, eine Partnerstadt von Erfurt, am Herzen. Besonders das dortige Leo Baeck Center, eine der beispielhaften Schulen Israels, die für ihre Exzellenz und ihr gesellschaftliches Engagement bekannt ist. 2012 haben Sie das von jüdischen und muslimischen Jugendlichen aus Haifa getragene Musical „Step by Step / Sauwa Sauwa“ von Haifa nach Erfurt geholt.

Das bringt mich auf das Festival Achava. Viele kennen das hebräische Wort für Liebe, „Ahava“. Mit „Achava“ ist aber Brüderlichkeit gemeint, Geschwisterlichkeit. – Das gleichnamige Festival findet im September schon zum vierten Mal statt, diesmal unter dem Motto „70 Jahre Staat Israel und seine Menschen“. Ich freue mich, dass der Initiator und Intendant dieses Festivals, Herr Kranz, heute unter uns ist. Ich zitiere den Vorsitzenden der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen, Herrn Professor Schramm: „Das Festival hilft, die jüdische Identität unserer Mitglieder zu bewahren und zu stärken.“ Ich danke Ihnen, verehrter Herr Professor Schramm. Sie und Ihr geschätzter Vorgänger Wolfgang Nossen haben das jüdische Leben in Erfurt, Jena und Nordhausen aufblühen lassen – mit enormem Einsatz begleitet und gefördert von der Landesregierung. Dafür gilt Ihnen, verehrter Herr Ministerpräsident, vielleicht der innigste Dank an diesem Abend. Ist doch Judentum in erster Linie Gemeinschaft – Gemeinde. Die Jüdische Landesgemeinde zählt heute gut 800 Mitglieder und hat damit nicht nur eine reiche Geschichte – sondern auch wieder eine vielversprechende Zukunft.

Verehrter Anwesende, Israel Jacobson hatte in Kassel als Erstes ein Lehrerseminar eingerichtet und anschließend in Seesen seine berühmte Schule eröffnet. Er wusste, dass jüdische Bildung die Grundlage für die Zukunft eines vitalen, aufgeklärten und selbstbewussten jüdischen Lebens ist. Heute gehören Sie, lieber Ministerpräsident Ramelow, zu jenen, die das Fundament für jüdisches Leben in Deutschland mit uns bauen. – Dafür danke ich Ihnen als Überlebende des Holocaust, als jüdische Bürgerin unseres Landes, als Gemeindepräsidentin, als freiheitliche Demokratin. Ich danke Ihnen von Herzen und tue dies heute Abend im glücklichen Verbund mit vielen anderen. Meinen herzlichsten Glückwunsch zum Israel-Jacobson-Preis. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.