Neue Gedanken – von Thüringen in die Welt

Ausgestattet mit einem leuchtend grünen Lutherrucksack, den ich in Namibia geschenkt bekam (Aufschrift: „Viva la Reformation“), war ich gut gerüstet für die Reise in die USA, bei der die Reformation auch Thema war. Eine durchaus anstrengende und eng getaktete Reise. Mit im „Gepäck“ das Thüringer Wirtschafts- und Wissenschaftsministerium, eine Delegation aus Thüringer Landtagsabgeordneten, Unternehmer/innen, Touristiker/innen, Journalisten, Kulturschaffenden, Musiker/innen und Vertreter/innen universitärer Einrichtungen.
„Von Reformation bis Rüstung“ sollte der MDR später titeln und über die Reise eines Linken „in das Herz des Kapitalismus“ sprechen. Andere, die die Reise aus dem heimischen Thüringen verfolgten, wunderten sich pressewirksam darüber, dass ich den neuen US-Präsidenten nicht mal zum persönlichen Handshake und Gedankenaustausch traf.
Tatsächlich ging es aber um etwas völlig anderes – nicht um große außenpolitische Gesten (Ministerpräsident/innen betreiben keineAußenpolitik) und auch nicht um Rüstungspolitik, sondern darum, wichtige Thüringer Ideen zu transportieren. Es ging um den Austausch zu den drei Leitthemen Reformationsjubiläum, Bauhaus und Wirtschaft 4.0. Diese drei Themen verbindet, dass es sich um erfolgreiche Thüringer Exporte handelt. Um Gedanken, die weltweit gesellschaftlichen Wandel eingeleitet haben oder bis heute treiben.
Rochester und Detroit, die ersten Stationen meiner Reise, verdeutlichten noch einmal die Bedeutung des Innovationsstandortes Jena für die Optoelektronik und die Automobilzulieferindustrie. Vertreter/innen des Optik-Clusters in Rochester waren höchst interessiert an der Zusammenarbeit mit Thüringer Forschungseinrichtungen.
Mein Besuch in Findlay bei Mitec Powertrain, einer Tochter der Mitec GmbH in Eisenach, wurde klar, dass deutsche Forschung und Entwicklung ist in der amerikanischen Automotive-Branche nicht mehr wegzudenken ist.
Aber auch viele deutsche Firmen schätzen die guten amerikanischen Standortbedingungen. So haben sich beispielsweise in Oakland County, wo ich das neue Jenoptik Werk besichtigen durfte, ca. 150 deutsche Firmen angesiedelt. Sie lockte die gut funktionierende Verwaltung und die exzellente, flexible Betreuung der Investoren in der immerhin 1,3 Millionen Einwohner/innen starken Region. Einmal mehr wurde mir bewusst, wie wichtig effiziente Verwaltungsstrukturen sind, damit Thüringen auch weiterhin international erfolgreich sein kann.
Wirtschaftsvertreter/innen schätzen besonders, dass Thüringen seit Jahrzehnten – und ganz unabhängig von der politischen Wetterlage – ein verlässlicher internationaler Partner ist. Eine Delegation, an der neben den regierungstragenden Fraktionen auch Vertreter/innen der Opposition teilnehmen, wäre in den USA undenkbar, da das präsidentielle Regierungssystem häufig eine Erarbeitung von Kompromissen im Sinne des  Allgemeinwohls erschwert. Ich nutzte die Gelegenheit, in Detroit vor über 200 Multiplikator/innen aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur unsere Stärken in diesen Bereichen hervorzuheben und – vor dem ebenfalls anwesenden Vize-Gouverneur von Michigan – deutlich zu machen, dass nur eine freie Wissenschaft und internationale Beziehungspflege auf  Augenhöhe stark machen.
In Detroit hat ein Strukturwandel eingesetzt, der über 70.000 leerstehende Häusern, Hallen, kaputte Stahlwerke und Fabriken in der Region nach sich zog. Vor dem American Council von Germany Chicago zog ich anhand dieses Beispiels Parallelen zur wirtschaftlichen Entwicklung Thüringens, die ich nicht nur als Landesvater kenne, sondern jahrzehntelang auch als Gewerkschafter begleitet habe. Die Zuhörer/innenschaft wunderte sich halb irritiert, halb augenzwinkernd über meinen Pragmatismus, mit dem ich offenbar nicht ihrer Erwartung eines „typischen Linken“ entsprach.
Meine Entgegnung: So ist das nunmal mit innovativen Modellen wie der r2g-Landesregierung. Wer die Welt verändern will, muss offen für neue Ideen und hin und wieder ein bisschen verrückt sein. Das entspricht dann aber in der Regel nicht den landläufigen Erwartungen.
Diese Erkenntnis lässt sich auch auf meine Treffen mit Vertreter/innen der Lutheran Church Missouri Synod (LCMS) sowie dem Generalsekretär der Evangelical Lutheran Church in America (ELCA) anwenden: Anders als der eine oder die andere erwarten würde, setzen sich dies Christ/innen mit großem Engagement für Geflüchtete und eine ihnen gegenüber offene Gesellschaft ein. Der gelebte Glaube ist hier kein Problem, sondern Teil der Lösung. Einwanderung wird nicht nur als Herausforderung, sondern auch als Bereicherung betrachtet.
In diesem Zusammenhang berührte mich auch der Austausch mit protestantischen Studierenden an der Concordia University, denen bewusst war, dass das Reformationsjubiläum auch immer wieder Raum für kritische Reflektion über Luther und dessen Antisemitismus bieten muss. Letzterer tritt heute in anderer Gestalt aber auch in Verbindung mit einem angeblich christlich motivierten Exklusivitätsdenken auf und ist nicht weniger gefährlich für eine offene, vielfältige Gesellschaft. Bei meinen Reden zu Luther, beispielsweise anlässlich zweier Bach-Konzerte in Chicago und New York, spannte ich daher einen weiteren Bogen:
Dieselben Menschen, die Luther und dessen Lehre dazu nutzten, Intoleranz und Hass zu verbreiten, erzwangen 1933 die Selbstauflösung des Bauhauses.
Dennoch lässt sich ein neuer, innovativer Gedanke nicht einfach unterdrücken. Die Emigration vieler Bauhausmitglieder sorgte wiederum für die weltweite Verbreitung ihrer unangepassten Ideen und bereicherte nicht zuletzt die USA. In Chicago und New York ist der Einfluss der Bauhausbewegung spürbar. Das School of the Art Institute of Chicago (SAIC), das Institute of Design in Chicago und das Pratt Institute New York atmen seinen Geist. Auf meinen Besuchen machte ich deutlich, dass wir in Thüringen Bauhaus nicht als isolierte, deutsche Entwicklung betrachten und nicht museal oder im Disneylandstil präsentieren wollen.
Gerade im Vorfeld des Bauhausjubiläums 2019 ist eine internationale Vernetzung der Institute wichtig, die den Bauhausgedanken auf die Herausforderungen der heutigen Gesellschaft anwenden. Diese Vernetzung wollen wir unter anderem durch eine verstärkte Kooperation der Bauhaus-Universität Weimar mit dem Pratt-Institute in New York erreichen.
In New York City endete meine Reise – mit einem innovativen, verrückten und beflügelnden Beispiel thüringisch-amerikanischer Zusammenarbeit. Als Andy Katz-Mayfield vor einigen Jahren ein Start-Up für Rasierer und Rasierzubehör gründen wollte, suchte er weltweit nach einem geeigneten Klingenhersteller. Im thüringischen Eisfeld wurde er fündig. Harry’s wirbt erfolgreich mit German Quality made in Thuringia gepaart mit modernem, New Yorker Design. Ich habe Harry’s gerne besucht und wünsche mir viel mehr solcher Erfolgsgeschichten.
In diesem Sinne: „Viva la Kooperation“ – Ihr Bodo Ramelow