Von der Kunst, es allen recht zu tun.

Ich bin in dem rheinhessischen Dorf Nieder-Wiesen aufgewachsen. Über einem Nachbarhaus meiner Großmutter war der Spruch angebracht: „Allen Menschen recht getan, ist eine Kunst, die niemand kann!“ Mich hat dieser Satz geprägt und als Kind habe ich oft darüber nachgedacht, ob er stimmt oder nicht. Letztlich drückt er aus, dass wir uns alle über eintretende Enttäuschungen durchaus vor ihrem Eintritt bewusst machen müssen und können. Natürlich: Man darf niemanden täuschen, aber man sollte sich auch keinen Selbsttäuschungen hingeben.

Warum sage ich das? Im Zusammenhang mit der Präsentation der Vorstellungen des Thüringer Innenministers, Holger Poppenhäger, zu den künftigen kreislichen Strukturen und Kreisstädten, erlebe ich eine aufgeregte Debatte, die mich sehr an den obigen Satz erinnert.

Es sei noch mal daran erinnert, dass ich als Ministerpräsident in Bezug auf die Verwaltungs-, Funktional- und Gebietsreform nie einen Zweifel daran gelassen habe, dass wir diese große Reform nicht nur angehen, sondern auch umsetzen. Im Übrigen ist das für mich und meine Partei auch keine Neuigkeit. Wir haben diese Position nicht plötzlich oder überraschend bezogen, sondern sie ist für alle Interessierten nachlesbar im Koalitionsvertrag zwischen LINKEN, SPD und Bündnis 90 / Die Grünen. Auf dieser Grundlage hat die Landesregierung ein Gesetz in den Landtag eingebracht, das mehrheitlich verabschiedet wurde.

Dass genau das manche nun überrascht, mit Verlaub, das ist für mich wiederum überraschend.
Bei der Debatte in diesen Tagen geht es offenbar mehr um Emotionen als um Fakten. Ja, ich habe immer wieder stark für diese Reform geworben und tue das auch weiter, weil ich davon überzeugt bin, dass wir sie brauchen, um unser Land fit für die Zukunft zu machen. Ich will meine Argumente hier nicht wiederholen. Aber immer habe ich damit meine Hoffnung verbunden, dass viele sich in die Debatte mit ihren eigenen Ideen und Vorschlägen einbringen. Das ist ja auch der Sinn von Debatten und Diskussionsprozessen. Das hat auf der anderen Seite die Konsequenz, dass eine Korrekturmöglichkeit eigener Positionen besteht, wenn die Gegenargumente überzeugen. Dann war und bin ich bereit, solche Ideen aufzugreifen und umzusetzen.

Aber Argumente sollten wenigstens einer logischen Überprüfung standhalten. Wenn klar ist, dass sich die Zahl der Kreise reduziert, in Thüringen von 17 auf 8 dann hat das zwingend zur Folge, dass es auch nur noch 8 Kreisstädte geben kann. Trotzdem gibt es auch weiter diese 17 Städte, die auch in den neuen Kreisen prägende Zentren sein werden. Ich bin zudem davon überzeugt, dass die Entscheidung über den Kreissitz zunächst nichts darüber aussagt, wie die künftige Kreisverwaltung strukturiert ist, wo welche Aufgaben erledigt werden, ja nicht einmal, welches KfZ-Kennzeichen verwandt wird.

Ich wiederhole mich: In einer mehr und mehr digitalisierten Welt verändern sich Abläufe für Menschen und Verwaltung. Mir will nicht in den Sinn, warum wir nicht viel konsequenter daran arbeiten, Verwaltungshandeln auch dadurch bürgernäher zu gestalten, indem wir Dienstleistungen online anbieten. Die Landesregierung hat immer klar gesagt hat, dass sie über Bürgerservicebüros alle Verwaltungsdienstleistungen bürgernah anbieten wird.

Das ist doch auch in anderen Bereichen Alltag. Selbstverständlich nutzen wir heute Online-Banking, bestellen Waren über unser Handy und gehen nicht mehr so oft ins Kino, sondern tun das online oder über unseren Fernseher. Auch das hat Folgen für das tägliche Leben, für Beschäftigte aber die Veränderungsprozesse sind aber Fakt. Nur in der öffentlichen Verwaltung tun wir aus meiner Sicht noch zu oft so, als könnten wir einfach so weiter machen.

Und klar ist auch: Niemand in den jetzigen Kreisverwaltungen wird durch die Verwaltungs-, Funktional- und Gebietsreform arbeitslos werden. Wir sichern allen Beschäftigten zu, dass sie ihre Arbeit behalten werden. Aber es kann sein, dass sie künftig andere Aufgaben an anderen Arbeitsorten zu erledigen haben. Der öffentliche Dienst in Thüringen steht vor der größten Verrentungswelle seiner Geschichte. Auch deshalb ist die Verwaltungs-, Funktional- und Gebietsreform ohne Alternative. Das Aussitzen dieser Reform in der Vergangenheit hat bereits zu viel Schaden angerichtet.

Bereits vor zehn Jahren hat eine Enquetekommission im Thüringer Landtag ihre Arbeit zur Verwaltungsmodernisierung aufgenommen. Seit zehn Jahren ist der Landtag mit diesem Thema befasst. Danach haben die CDU geführten Landesregierungen Kommission um Kommission eingesetzt. Es mangelt uns also nicht an Daten, Fakten und Erkenntnissen zur Notwendigkeit dieser Reform. Der CDU fehlte nur der Mut zur Umsetzung. Man kann auch sagen, die CDU rührt lieber am Beton der Verweigerung als an der Zukunft des Landes mitzuwirken. Symbolisch dafür war für mich, als der von mir persönlich hochgeschätzte Kommunalexperte der CDU-Fraktion. Wolfgang Fiedler, das von ihm sogenannte „Blaue Wunder“ in die „Blaue Tonne“ entsorgte. Dieses „Blaue Wunder“ war der Abschlussbericht der Expertenkommission, die Christine Lieberknecht eingesetzt hat. Deshalb irritiert es mich, dass die CDU jetzt in der Opposition meint, die Reform an sich sei ja vielleicht notwendig aber die Art und Weise und vor allem die Reihenfolge der Reformschritte seien falsch. Ich frage mich: Warum hat die CDU die letzten zehn Jahre nicht genutzt um zu zeigen, wie es besser geht? Dass ausgerechnet jene, die die notwendigen Reformen über Jahre verschleppt und am Ende vergeigt haben, nun am lautesten rufen: „Haltet den Dieb!“, das überzeugt mich nicht.

Enttäuschung von Städten, die ihren Status als Kreisstadt verlieren und Regionen, deren Vorstellungen der Kreisgliederung nicht berücksichtigt wurden, kann ich emotional verstehen. Ich kann aus dieser Perspektive auch den Protest verstehen. Wenn eine Oberbürgermeisterin wie Katja Wolf aus Eisenach enttäuscht ist, dass Eisenach nicht Kreisstadt wird, obwohl sie immer die anstehenden Reformen unterstützt und mit eigenen Ideen begleitet hat. Ich verstehe auch die Wut, dass Eisenach scheinbar benachteiligt wird, gegenüber einer Stadt, deren Oberbürgermeisterin schwarze Bücher schreibt, statt die Verantwortung über die selbstverschuldete Insolvenz der Stadtwerke zu übernehmen.

Die Haltung von Katja Wolf hat meinen Respekt, denn sie hat sich nicht, wie eine Initiative darauf beschränkt, Unterschriften zu sammeln und Verhandlungen über das Wie von Reformen abzulehnen, weil sie dazu nicht legitimiert sei. Diese Initiative, die nun einfach weiterzieht und sich überrascht zeigt und all die anderen, die die letzten Monaten vor allem damit verbracht haben, sich an den Vorschlägen mit Fundamentalkritik statt konstruktiven Vorschlägen abzuarbeiten, die erinnere ich jetzt gern an den berühmten Satz von Michail Gorbatschow über jene, die zu spät kommen, weil sie gesellschaftliche Entwicklungen nicht wahrnehmen wollten.

Und manchmal denke ich an den Satz eines SED-Funktionärs, der der Meinung war, man müsse seine Wohnung nicht neu tapezieren, nur, weil der Nachbar das täte. Als die DDR unterging, stellten wir alle miteinander fest, dass viele Wohnungen eine Generalsanierung brauchten und nicht nur einen Tapetenwechsel.

Ein Blick auf die Verwaltungsstrukturen in Deutschland würde Erkenntnisgewinn und Diskussionsprozesse erleichtern. Mit unseren Vorschlägen liegen wir eher im Durchschnitt von Flächengrößen und Einwohnerzahlen. Für die einen ist das viel zu radikal. Die sagen, es soll doch alles bleiben, wie es ist. Für die anderen geht die Reform nicht weit genug, die meinen, wir sollten aus den vier Planungsregionen vier Regierungspräsidien machen und alle Verwaltungsaufgaben des Landes dort bündeln, also die übertragenen Aufgaben wieder von den Kreisen ans Land zurückübertragen. Dann hätte man zwar weiter kleine Landkreise aber die hätten fast keine Funktionen mehr, denn diese würden dann durch vier große Landesbehörden erledigt. Diese radikalste Variante würde in die kommunale Selbstverwaltung gar nicht eingreifen aber die kreislichen Aufgaben dramatisch reduzieren.

Genau zwischen diesen beiden Extremen hat die Landesregierung versucht, einen vernünftigen Mix aus Regionalität und Effizienzsteigerung im Verwaltungshandeln zu erreichen. Dafür habe ich keinen Applaus erwartet, aber doch die Bereitschaft, enger am Wie zu debattieren und sich mit eigenen, konkreten Vorschlägen einzubringen.

Die gab es auch, nur hatten sie es schwer, Gehör zu finden. Ich will darauf hinweisen, dass es im Bereich Jena/Saale-Holzland durchaus auch die Debatte gab, ob nicht die Fusion beider Einheiten weitaus zukunftsträchtiger wäre. Die Kammern der Wirtschaft haben sich eingebracht, die Agentur für Arbeit. Ein Teil der Landkreise hat sich still aufgemacht, die Prozesse zu beeinflussen und zu gestalten. Andere haben darauf gesetzt, dass die Landesregierung schon scheitern werde. Und dann gibt es noch besondere Attitüden, die ich nur noch unredlich nennen kann. Da wird von einem CDU-Politiker vorgetragen, dass der neue Saalekreis mit rd. 3.000 km2 der größte Landkreis Deutschlands werden würde. Ein Blick in die Statistik der Größe von Landkreisen in Deutschland zeigt, dass es einige größere Landkreise gibt und geben wird. Allein fünf Landkreise in Mecklenburg-Vorpommern sind jetzt größer als der künftig flächenmäßig größte Landkreis in Thüringen.

Ein SPD-Landrat beklagt, dass der Vorschlag seine Region in einen „Monsterkreis“ zwänge, um sich selber für einen noch größeren Kreis einzusetzen. Offenkundig gibt es kleine und große Monster. Entscheidend ist nur, wer sie vorschlägt.

Und ein CDU-Landrat, den ich für seine fachliche Arbeit hoch schätze, will mit seinem ganzen Landkreis nach Niedersachsen auswandern, um die katholische Identität seiner Region zu wahren. Tatsächlich träfe dann das Eichsfeld mit etwas mehr als 100.000 Einwohnern auf 943 km2 auf den Landkreis Göttingen mit fast 330.000 Einwohnern auf 1.753 km2. Beide zusammen wären dann für Thüringer Verhältnisse wieder ein Monster?! Der heutige Landkreis Göttingen ist übrigens gerade aus der Fusion von zwei Landkreisen entstanden.

Apropos Göttingen: Die Diskussion um das Göttinger-Modell hätte ich mir in unserer Thüringer Debatte gewünscht. Göttingen ist als kreisangehörige Stadt mit 120.000 Einwohnern ein Schwergewicht im gesamten Landkreis. Göttingen erfüllt im Rahmen des Göttinger-Modells Aufgaben für den gesamten Landkreis. Auch das wäre eine spannende Variante.

Und falls jemand in der Rhön den Blick Richtung Westen wagen würde, träfe er auf den Landkreis Fulda mit 220.000 Einwohnern auf 1.380 km2 und dahinter direkt auf den Main-Kinzig-Kreis mit über 440.000 Einwohnern auf 1.400 km2. Letztere funktionieren seit über 30 Jahren hervorragend.

Der Innenminister wird jetzt seinen Vorschlag zu Papier bringen, dem Kabinett als Vorlage zuleiten und die Regierung wiederum wird den Gesetzesentwurf an den Landtag zur Beratung übergeben. Immer noch Gelegenheit, sich auf den Weg zu begeben und bessere Ideen zum Wie einzubringen. Aber ich sage es nochmal: Die Verwaltungs-, Funktional- und Gebietsreform wird wie von der Koalition vereinbart in dieser Legislaturperiode umgesetzt. Ich kann nur dazu aufrufen, die Zeit zu nutzen und sich mit besseren, konkreten Vorschlägen einzubringen. Die Regierung hat bewiesen, dass sie Vorschläge auch zur Kenntnis nimmt. Wir werden uns daran messen lassen, dass wir solche Vorschläge aufgreifen, aufnehmen und den Prozess zu einem erfolgreichen Finale führen.

Bei aller Aufregung, die sich auch wieder legen wird, bleibt die Erkenntnis, dass wer will, dass es so bleibt wie es ist, leider in Kauf nimmt, mit der Zukunftsfähigkeit unseres Landes zu spielen. Nur wer sich verändert, der wird bleiben!

Nicht Lautstärke ist derzeit gefragt, sondern Konstruktivität. Die Neinsager haben sich sämtlichst zu Wort gemeldet. Ob die Befürworter und die Nachdenklichen jetzt mal ihre Zurückhaltung ablegen könnten?

Ich wünsche ein nachdenkliches Wochenende.

Bodo Ramelow