Predigt zum Reformationsgottesdienst in St. Thomas

Liebe Schwestern und Brüder,


der vorgeschlagene Predigttext für den heutigen Reformationstag steht bei Jesaja im 62. Kapitel. Er verweist auf die zukünftige Herrlichkeit Zions. Es heißt dort, dass der Herr, unser Gott, Wächter über die Mauern von Jerusalem bestellt hat und dass diese Wächter den ganzen Tag und die ganze Nacht nicht mehr schweigen sollen.
Doch hören wir zunächst einmal auf die Worte des Propheten Jesaja. Textlesung:
6) O Jerusalem, ich habe Wächter über deine Mauern bestellt, die den
ganzen Tag und die ganze Nacht nicht mehr schweigen sollen. Die ihr
den HERRN erinnern sollt, ohne euch Ruhe zu gönnen,
7) Lasst ihm keine Ruhe, bis er Jerusalem wieder aufrichte und es setze
zum Lobpreis auf Erden!


10) Gehet ein, gehet ein durch die Tore! Bereitet dem Volk den Weg! Machet
Bahn, machet Bahn, räumt die Steine hinweg! Richtet ein Zeichen auf für
die Völker!
11) Siehe, der HERR lässt es hören bis an die Enden der Erde: Sagt der
Tochter Zion: Siehe, dein Heil kommt! Siehe, was er gewann, ist bei ihm,
und was er sich erwarb, geht vor ihm her!
12) Man wird sie nennen „Heiliges Volk“, „Erlöste des HERRN“, und dich
wird man nennen „Gesuchte“ und „Nicht mehr verlassene Stadt“.


Der Text des Propheten Jesaja spricht davon, dass die Menschen sich erinnern sollen an den Herrn und dabei sich und ihm keine Ruhe gönnen sollten. Die Menschen sollen also Gott selbst immer wieder in den Ohren liegen und ihn erinnern an seine Zusagen. Diese Unruhe, von der Jesaja spricht, solle solange andauern, bis Jerusalem wieder mit Gottes Hilfe aufgerichtet sei, und zwar zum Lobpreis Gottes und zum Wohl und zur Freude des Volkes auf Erden. Der Prophet ermuntert mit dem Text seine Mitmenschen, daran zu glauben, dass es einen besseren Zustand geben wird als den jetzigen, in dem sich die Menschen befanden.
Es ist in dem prophetischen Text wohl nicht die Rede von einem Baumeister, der ein praktisches Bauwerk errichten will, sondern es geht wohl mehr um ein Heilsversprechen, denn schon am Anfang heißt es: „Um Zions willen will ich nicht schweigen, und um Jerusalems willen will ich nicht innehalten, bis seine Gerechtigkeit aufgehe wie ein Glanz und sein Heil brenne wie eine Fackel, dass die Heiden sehen deine Gerechtigkeit und alle Könige deine Herrlichkeit. Und du sollst mit einem neuen Namen genannt werden, welchen des Herren Mund nennen wird.“ Es geht also nicht um die architektonische und statische Berechnung eines konkret zu errichtenden Gebäudes. Es geht nicht um ein Gebäude, das Streit auslöst oder die Menschheit in Streit und Vielsprachigkeit entlässt – also weder ein Bauwerk wie der Turmbau zu Babel noch Bauwerke wie das Berliner Stadtschloss oder der Flughafen, die immer wieder Stein des Anstoßes und weniger Zeichen der Versöhnung sind.
Hier geht es um eine von Feinden zerstört Gesellschaft und Stadt, die darnieder und in Trümmern liegt. Beides soll wieder errichtet werden zum Wohl und Heil der Menschen und Gottes. Hier soll wieder Friede und Gerechtigkeit herrschen.
Da helfen keine Glasfassaden oder pompöse architektonische Merkmale; der Glanz, von dem Jesaja spricht, ist der Glanz der Gerechtigkeit und ein Heilsversprechen, das brennen soll wie eine Fackel. Und damit dieser Glanz wieder leuchten kann und wieder zum Strahlen kommt, sollen die Wächter nicht aufhören, Gott selbst immer wieder zu erinnern an sein gegebenes Versprechen und an seine Zusagen. Ich denke, diese Aufgabe gilt auch heute noch für uns.
Wenn wir als Christen an dieses Jerusalem denken, von dem Jesaja spricht, ist es aus heutiger Perspektive ein Ort, an dem die Wurzeln der Menschheit und das Fundament dreier monotheistischer Religionen zu finden sind. Es ist ein Schmelztiegel vieler Kulturen und ein Treffpunkt der unterschiedlichsten Religionen. Es ist aber auch ein Streitpunkt, zu dem wir immer wieder Gottes Hilfe im Gebet bemühen sollten, um für den Frieden in der Region rund um dieses Jerusalem zu bitten.
Aktuell erleben wir die schlimmen Nachrichten aus Syrien von den Orten der schrecklichen Gräueltaten, und wir wissen, dass zwischen Jerusalem auf dem Landweg nach Tarsus – dem Geburtsort von Paulus – eben heute das heftig umstrittene Damaskus liegt. Für Martin Luther waren das Lebenswerk von Apostel Paulus und die Botschaften von Paulus einer der zentralen Punkte einer Erneuerung unseres Glaubens und unserer Kirche.


Wenn ich heute die Briefe von Paulus nehme und lese, finde ich viele spannende Textzeilen, die mich bis heute beeindrucken und mich fragen lassen, wie ein Mensch so weitreichende Gedanken formulieren konnte, die weit über das eigene Leben hinausreichen. Wenn ich aber die Paulus-Briefe geographisch zuordne, umschreiben sie das ganze östliche Mittelmeer, auf dem er seine Missionsreisen durchführte, und mit 2000 Jahren Abstand können wir feststellen, dass an vielen dieser Orte kein dauerhafter Friede eingetreten ist. Denn selbst, wenn in einigen Regionen mehrere hundert Jahre Frieden herrschten, so zeigen das jetzige Geschehen in Damaskus und die nur oberflächliche Ruhe in Jerusalem, die alarmierenden Entwicklungen in Kairo, dass wieder etwas losgetreten ist, bei dem wir alle noch nicht einschätzen können, wohin es uns bringen wird. Hier ist es gut, Handlungsorientierung aus alter Kultur auch für den heutigen Weg zu erhalten, und es ist gut, mit einem festen Glauben auch zu wissen, dass über das eigene Leben hinaus weitere Kräfte vonnöten sind, um Gerechtigkeit wachsen lassen zu können.
In dem Jesaja-Text des heutigen Tages heißt es:
„Der Herr hat geschworen, bei seiner Rechten und bei seinem starken Arm: Ich will dein Getreide nicht mehr deinen Feinden zu essen geben noch deinen Wein, mit dem du so viel Arbeit hattest, die Fremden trinken lassen, sondern die es einsammeln, sollen es auch essen und den Herrn rühmen, und die ihn einbringen, sollen ihn trinken in den Vorhöfen meines Heiligtums.“


Einen Text, bei dem man den Eindruck haben könnte, dass man das von sich selbst Geschaffene und durch eigenes Wirken Erreichte nicht mehr hergeben soll, deute ich aber eher so, dass man es sich nicht mehr wegnehmen lassen soll. Die Frage ist nur, wer sind hier in dem prophetischen Text die Fremden?
Aktuell erleben wir in Deutschland und in Europa das Gefühl der Beunruhigung, wenn Fremde kommen. Wenn wir die Bilder von Lampedusa sehen und die Nachrichten hören, dass wieder Hunderte von Flüchtlingen ertrunken sind an den EU-Außenrändern auf dem Meer, auf dem Paulus auch unterwegs war, um die Gemeinden zu ermuntern, ihren Glauben zu leben und im Glauben fest zu sein. Dieses Meer wird nun zur tödlichen Falle. Aus Damaskus und aus Syrien brechen Christen auf, die seit Paulus Zeiten dort in Gemeinden gelebt haben. Es wiederholt sich auf schreckliche Art, was im Irak schon passiert ist. Nach dem Sturz der Autokraten und Despoten trat eben kein Frieden ein, sondern wurde der Wein freigegeben, damit ihn die Fremden – also die anderen – trinken können, um in dem Bild von Jesaja zu bleiben.
Die Ausplünderung des Nachbarn ist heute gängige Not rund um das östliche Mittelmeer.


Nicht mit dem starken Arm unseres Gottes wird dafür gesorgt, dass die Feinde das Brot nicht wegessen und den selbstgekelterten Wein wegnehmen und austrinken, sondern mit unserer Technologie und mit unseren Waffen werden die Waffengänge vorbereitet und mit wenig friedfertiger Ideologie und Theologie werden die Wege bereitet, um Menschen zu umherirrenden Flüchtlingen zu machen. Flüchtlingselend ist bedauerlicherweise keine Erfindung der Neuzeit, aber die Möglichkeiten, Flüchtlingselend zu verhindern oder zu mindern, waren noch nie so hoch wie in der heutigen Zeit. Technisch und finanziell wären wir doch in der Lage, andere Weichen zu stellen, denn ich glaube kaum, dass die syrischen Christen gerne oder mit Euphorie in ihrer Heimat aufbrechen, um sich – auf welchen Wegen auch immer – in gesichertere Regionen durchzuschlagen.
Auf einer Pilgerreise auf den Spuren Paulus habe ich im Grenzgebiet zwischen der Türkei auf Syrien schauen können. Das war noch zu einer Zeit, bevor diese schrecklichen Ausbrüche der Gewalt losgingen. Schon damals war die Grenze so gesichert wie die ehemalige innerdeutsche Grenze. In Istanbul habe ich irakische Christen treffen können, die uns erzählten, dass sie in der Heimat vor Überfällen, Mord und Totschlag nicht mehr geschützt sind und deshalb ihr Heil in der Auswanderung suchen und täglich hofften, Einwanderungspapiere nach Amerika, Kanada, Australien oder Neuseeland zu erhalten.
Die aramäischen Christen leben heute in einer größeren Anzahl hier in Berlin als in ihren Siedlungsgebieten, und die Sprache – das Aramäische – droht zu verschwinden und nur noch als Liturgie-Sprache in theologischen Büchern zu verstauben.


Neben diesen Flüchtlingsströmen gibt es einen zweiten großen Flüchtlingsstrom, den ich erwähnen will. Hier wird er abgetan unter dem schlimmen und diskriminierenden Begriff der „Wohlstandsflüchtlinge“. Als ob Bauern oder Hirtenfamilien aus dem afrikanischen Kontinent nichts Besseres zu tun hätten als ihr Heil jenseits des Meeres als rechtlose Wanderarbeiter oder als Illegale zu fristen. Auch da sei nur der Fakt erwähnt, auf den auf dem Kirchentag in Dresden hingewiesen wurde. Die großen Kapitalfonds dieser Welt haben mittlerweile in Afrika so viel Ackerland aufgekauft wie in ganz Europa bewirtschaftetes Ackerland vorhanden ist.
Landgrabbing heißt das. Dieses, nun unter dem Gesichtspunkt von Rendite und Kapitalerträgen bewirtschaftete Land schafft Zuwachsraten für Monsanto, Hedgefonds, aber auch für das gute Gewissen bei uns, wenn Sojafuttermittel zur Hochleistungsfleischproduktion für billiges Geld genutzt werden können und Palmöl unser gutes Gewissen beruhigen soll, wenn damit regenerative Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen betrieben werden und billiger Bio-Treibstoff unsere Autotanks füllen


Der ehemalige Bundespräsident Horst Köhler hat in einem Gebetsfrühstück, an dem ich teilnehmen konnte, einmal gesagt, als die Fischerboote zu den Kanarischen Inseln aufbrachen, dass dies eine direkte Folge der Überfischung durch gigantische Trawler-Flotten ist. Er sagt sinngemäß: Erst nimmt man ihnen den Fisch und dann wundert man sich, wenn das nutzlose Boot dafür genommen wird, um das bedrohte Leben unter lebensbedrohlichen Umständen über das Meer zu retten.
Wir werden wohl die Beunruhigung an unseren Küsten nicht beruhigen können, indem die Abwehrmechanismen noch martialischer und die Überfahrten noch tödlicher werden. Wir werden es wohl nur schaffen, wenn wir Paulus beherzigen, der an seine Gemeinde schrieb: „Tut nichts aus Eigennutz oder um eitler Ehre willen, sondern in Demut. Achte einer den andern höher als sich selbst, und ein jeder sehe nicht auf das Seine, sondern auch auf das, was dem anderen dient.“
Welch ein Satz, den Paulus geschrieben hat und der mich auch heute noch elektrisiert.
Solche Sätze sind es, die Martin Luther zum Gegenstand seiner Glaubenslehre gemacht hat – die Frage der persönlichen Verantwortung, auf die Paulus hingewiesen hat, zu der man sich nicht per Ablasshandel à la Tetzel zu Zeiten Martin Luthers oder in der heutigen Zeit des Emissionshandels oder anderer scheinbarer Wirtschaftszwänge oder anderer Alternativlosigkeiten freikaufen kann.
Es ist aber nicht so, dass wir als Christen legitimiert wären, der Gewalt in der Welt noch weitere Gewalt hinzuzufügen. Es ist eben nicht so, dass Gewalt Gewalt beenden würde. Wir können also nicht zu einer der großen Banken gehen oder die Hedgefonds besuchen und ihre Tische umwerfen oder sie aus dem Tempel schmeißen, denn wir müssen den Mechanismus verstehen, mit dem die schönen Gebäude, die Silhouetten der Großstädte, der Glanz der Metropolen dieser Welt, die Skylines den Eindruck erwecken, weit über den Turmbau zu Babel schon hinausgewachsen zu sein und längst die Wächter auf den Mauern in Jerusalem, von denen Jesaja sprach, überbaut zu haben. Umso wichtiger ist es, dass die Wächter die ganze Nacht und den ganzen Tag nicht mehr schweigen sollen. Sie sollen Gott, den Mächtigen und Machthabern dieser Welt und auch uns, die wir daran partizipieren, immer wieder zurufen und uns ermahnen, die Steine wegzuräumen und das Zerstörte und in Unordnung geratene wieder herzustellen. Und ich meine, dies ist nicht nur das Jerusalem in Israel, sondern es ist das Jerusalem an jedem Platz, wo Menschen sich versammeln und in Gerechtigkeit und Verantwortung miteinander leben wollen. Wie Jesaja sagt, es sollen und müssen auch diejenigen die Chance haben, ihr Essen einsammeln zu können, ihre Ernte einbringen zu dürfen und den von ihnen selbstgekelterten Wein trinken zu dürfen in den Vorhöfen seines Heiligtums. Ein Bild des Friedens, aber auch der Freude, ein Bild des Heils und der Gerechtigkeit, das Jesaja entstehen lässt.
So gesehen lädt uns der heutige Predigttext ein, durch weitgeöffnete Tore des Glaubens zu gehen, den Weg für das Volk zu ebnen, Bahnen zu schaffen, die Steine beiseite zu räumen und so ein Zeichen zu setzen für die Völker.
Liebe Gemeinde, welch ein Versprechen und welch eine Ermutigung für die Zukunft sind die letzten Verse dieses Kapitels: „Siehe, dein Heil kommt! Siehe, was er gewann, ist bei ihm, und was er sich erwarb, geht vor ihm her! So wird man sie dann nennen – das Heilige Volk, die Erlösten des Herrn, und die Stadt Jerusalem oder jeder Ort des Glaubens wird der gesuchte Ort und die nicht mehr verlassene Stadt.
Aber auch in diesen Versen lese ich auch wieder einen Auftrag an uns heute.
Denn um diese Stadt nicht mehr verlassen zu müssen, müssen wir auch dafür sorgen, dass die Gründe, die zum Verlassen vieler Städte und Dörfer führen, beseitigt werden. Wir alle kennen diese Gründe zur Genüge. Es sind Gier, Habsucht und das rein eigennützige Handeln. Sie sind in unserer Gesellschaft weitverbreitet und oft genug sind wir auch daran beteiligt.
In jedem christlichen Gottesdienst beten wir das Vaterunser, weltweit. Wir bitten dabei jedes Mal: „Und vergib uns unsere Schuld wie wir vergeben unseren Schuldigern.“


Stellen wir uns vor, dass die reichen Staaten dieser Erde – also auch wir hier in Deutschland – den armen Staaten die Schulden erlassen würden und Maßnahmen ergreifen würden, dass jedes Land, jeder Kontinent seine Ressourcen selbst bewirtschaften kann und die Erträge zum Nutzen seiner eigenen Menschen zur Verfügung hätte – das wäre doch dem Text von Jesaja gemäß, dass man nicht mehr den Wein und das Getreide den Feinden zum Essen geben muss. Denn tatsächlich ist das industriell angebaute Soja in Afrika der Ausgangspunkt von dem Getreide, welches der afrikanische Bauer nicht mehr anbauen kann. Und der billige Weizen aus Amerika, der auf afrikanischen Märkten heimische Nahrungsmittel verdrängt und die hochsubventionierte Fleischproduktion in Europa, all das und noch vieles mehr ist nur die andere Seite derselben Medaille.
Wenn wir also unseren Herrn in den Vorhöfen des Heiligtums rühmen wollen und dabei unser Essen und Trinken selbst einsammeln und selbst verzehren wollen, dann muss dies für die anderen Menschen jenseits des Mittelmeeres gelten. Der Ausgangspunkt von Not und Hunger und auch von Krieg und Zerstörung liegt doch vor unseren Haustüren, und die Bedrängten versuchen, sich und ihre Familien unter lebensbedrohlichen Umständen zu retten, weil ihre Feinde ihnen das Essen und das Trinken genommen haben. Der Zusammenhang zwischen importierten preiswerten Gütern und der damit exportierten Not in den Herkunftsländern ist, wie bereits gesagt, nur die andere Seite der gleichen Medaille.


Doch was hat das alles mit dem heutigen Reformationstag zu tun?
Martin Luther hat seinen Glauben, seine Überzeugung in ein persönliches Verhältnis zwischen Mensch und Gott gestellt. Er hat damals versucht, die Trümmer und Steine wegzuräumen, die er in der Zerrüttung der Glaubensgrundsätze, der Gier, der Habsucht, der Prunksucht, der Selbstbezogenheit und Unbarmherzigkeit gegenüber den Armen, innerhalb der Kirche und des Klerus sah. Er war, um mit Jesajas Worten zu sprechen, ein Wächter des Glaubens, der unablässig ruft. Als solcher wollte er die Kirche, gegen viele Widerstände seiner Zeit reformieren, also wieder in Form bringen. Er wollte sie wieder auf das Fundament stellen, auf dem der christliche Glaube gegründet ist: die unmittelbare Beziehung zu Jesus Christus, denn diese ermöglicht erst die Tragfähigkeit des Glaubens und der Kirche. Er wusste: Eine solche Beziehung ist nur erlebbar, wenn ich fähig bin, die biblischen Texte, die die Grundlage unseres Glaubens sind, selbst zu lesen und mich damit auseinanderzusetzen. Deshalb auch sein Anliegen, die „normalen Menschen“ zu befähigen, die biblischen Texte in der ihr verständlichen deutschen Sprache zu lesen.
In diesen Texten finde ich persönlich Problemlösungswege, die immer noch so aktuell sind, auch wenn die einzelnen Texte aus uns fernen Zeiten sind. Die Freiheit eines Christenmenschen besteht für mich darin, die Dinge um mich herum zu analysieren, andere anzuregen, darüber nachzudenken und gemeinsam Entscheidungen in Verantwortung für mich selbst und auch meine Mitmenschen zu treffen.
Zum Beispiel: Regional statt global ist ein kleiner Schritt zur eigenen Verantwortung. Die Rückeroberung unserer eigenen Umgebung und der Schutz für Menschen, die hierherkommen, sind Schritte, die wir gehen können.
Zwei Beispiele aus Thüringen, die aber überall sein könnten, möchte ich zum Schluss noch erwähnen:
Bei mir in Thüringen gibt es einen ganz kleinen Ort, in dem zurzeit eine große Aufregung herrscht, ob eine zentrale Verteilstelle für Flüchtlinge eingerichtet wird. Es macht mir Sorge, wenn ich die Plakate sehe, dass man Angst vor den Fremden hätte, und gleichzeitig motiviert es mich zu helfen, wenn ich sehe, dass die Kirchgemeinde versucht, das Klima in dem Ort zu verändern. (Den Aufstand in Hellersdorf haben Sie hier in Berlin erlebt und auch die Widerständigen).
Vor kurzem wollten Nazis vor der einzigen muslimischen Metzgerei in Thüringen ihren Wahlkampf eröffnen. Parteiübergreifend und religionsübergreifend haben wir zusammengestanden, um deutlich zu machen, halal und koscher sind Speise- und Schlachtvorschriften, die auf religiösem Fundament der abrahamitischen Religionen aufbauen. Auch wenn es nicht unsere sind, so wollen wir doch gemeinsam darauf achten, dass wir in Glaubensfragen zusammenstehen. Wenn wir so zusammenstehen und kleine Schritte zusammen tun, über große Zusammenhänge miteinander reden, dann sind das die einzelnen Schritte, die uns die Tore aufmachen nach Jerusalem, durch die wir gemeinsam hineingehen können. So könnten wir gemeinsam schauen, wie wir uns auf den Weg machen, um Erlöste des Herrn oder Erlöste durch den Herrn zu werden. Das wäre die zukünftige Herrlichkeit Zions – von der der Prophet Jesaja sprach – als Zielstellung für das, wofür es sich lohnt zu leben und mit dem Glauben, mit unserem Glauben, die Welt besser zu verstehen.
Das, liebe Gemeinde, wollte ich Ihnen als meine Gedanken zum Reformationstag mit auf Ihren Weg geben.
„Der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.“ Amen.