Nachdenkliches zum Schluss

Die intensive Delegationsreise, die auch sehr kräftezehrend war, nähert sich dem Ende. Hatten wir als Delegationsmitglieder das Gefühl, irgendwann auch noch einmal Luft holen zu können, so bekamen wir am Schluss noch einmal die „volle Ladung“ an Diskussionen und Informationen.


Der Vormittag vollzieht sich über einen Intensiv- und Schnellkurs zum zivilgesellschaftlichen Diskussionsprozess innerhalb der Israelischen Gesellschaft. Man könnte fast sagen, es handelt sich um ein Speed-Dating in Sachen Politik.
Zwei Vertreter, Stav Shaffir und Jonathan Cohen, der sozialen Protestbewegung erläutern uns die November-Demonstrationen sowie die Bewegung der Zeltstädte in ganz Israel.
Deutlich wird aber, dass es sich um die Protestbewegung der israelischen Mehrheitsgesellschaft handelt, denn der anwesende Vertreter der israelischen Palästinenser merkte schon skeptisch an, wie schwer es fällt, auf einmal mit jungen Menschen zusammen in der Protestbewegung zu stehen, die ansonsten oder noch vor kurzer Zeit mit der Waffe in der Hand an einem der Checkpoints gestanden haben.

Rina Shapira von der feministischen Organisation der russischsprachigen Einwanderer gibt uns einen Einblick in das, was die zweitgrößte Zuwanderer- bzw. Minderheitsgruppe innerhalb Israels betrifft. Man muss sich im Klaren sein, dass – wahlberechtigt und mit israelischer Staatsangehörigkeit ausgestattet – 20 Prozent der Gesamtbevölkerung der arabischen Minderheit angehören, aber dass die russischen Zuwanderer mittlerweile auch 16 bis 18 Prozent der Gesamtgesellschaft ausmachen.
Alleine bei den russischen Zuwanderern sind mittlerweile schon 50.000 Kindern in Israel geboren worden. Diese 50.000 Kinder der russischen Zuwanderer haben eine schlechtere Schulbildung als ihre eigenen Eltern.


Die Frage, warum russische Zuwanderer häufig jenseits der Grünen Linie angesiedelt sind, beantwortet sie mit der Frage, ob wir uns im Klaren sind, wie das größte Immigrationspotenzial innerhalb der israelischen Gesellschaft verarbeitet wird.
Die größte staatliche Organisation, die sich um Migranten und um deren Integration in die israelische Gesellschaft kümmert, sei eben die Armee. Kaum landen sie, werden sie faktisch fast vom Flughafen weg in die Armee angeworben. Diese Zuwanderergruppen haben vom Sozialismus oder dem, was man darunter in der Sowjetunion hat verstehen müssen, die „Nase gestrichen voll“, und sie haben vom sozialistischen Zyonismus in Israel überhaupt keine Ahnung. Meistens haben sie auch vom jüdischen Glauben wenig bis keine Ahnung. Hier vollzieht sich eine doppelte Militarisierung im Sinne einer gesellschaftlichen Integration in ein militärisches Verteidigungssystem, das gleichzeitig allerdings auch extrem repressiv aufgestellt ist. Die Siedlungen, die man diesen Zuwanderern anbietet, die wir auch in den C-Gebieten sehen konnten, ähneln deshalb mehr einem Wehrdorf als denn wirklich einer zivilisatorischen Besiedlung von unbenutztem Land. Tatsächlich wird hier ein altes Recht aus dem osmanischen Reich, dass unbenutztes Land nach einigen Jahren der Nichtnutzung neu verteilt werden könne, missbraucht, denn das Leben der Beduinen wird einfach als Nichtnutzung des Landes angesehen.


Uns wird klar, dass eine Anzahl von 20 Prozent in der Bevölkerung, die der arabischen Minderheit angehören, und fast 18 Prozent, die russische Zuwanderer sind, eine Gesellschaft fragmentiert wie wohl an keinem anderen Ort auf der ganzen Welt. Wenn man dann auch noch zur Kenntnis nimmt, welche Binnenauseinandersetzungen aktuell in der israelischen Gesellschaft selber stattfinden, wenn man spürt, wie in Jerusalem die Spannung steigt, wenn Frauen nicht mehr auf den normalen Bürgersteigen gehen dürfen, sondern von den männlichen Orthodoxen auf eigene Gehsteige verwiesen werden oder eigene Buslinien sogar existieren, in denen die orthodoxen Männer vorne und die orthodoxen Frauen hinten im Bus sitzen.
Erst vor wenigen Tagen kam es zu einer großen Protestkundgebung gegen die religiöse Intoleranz, die von diesen israelischen Vertretern ausgehen, die im Herzen den Staat Israel ablehnen.


Worin unterscheidet sich dann noch der arabische Bürger, dem man seine staatsbürgerschaftlichen Rechte nicht gewährt – denke ich – von dem, der die gesamten israelischen Rechte in Anspruch nimmt und den Staat Israel abgrundtief ablehnt? Am Radikalisierungspotential jedenfalls unterscheidet sich das nicht mehr.


Während immer mehr in die militärische Option und den repressiven Charakter dieser militärischen Option investiert wird, steht immer weniger für sozial umzuverteilende Projekte zur Verfügung. Der Wohnungsbau lahmt zugunsten eines aggressiven Siedlungsbaus. Die Schulbildung lahmt zugunsten eines Staatshaushaltes, der immer mehr Geld in die Durchführung der Besatzung investiert.
Das Beispiel der vielleicht 800 Siedler in Hebron, die von einigen Tausend Soldatinnen und Soldaten rund um die Uhr beschützt werden, fällt uns wieder ein.
Aber eben auch die Frage: Wie soll man urteilen, wenn in Jerusalem Frauen nicht über den gleichen Bürgersteig gehen dürfen und in Hebron die Palästinenser ebenso einen eigenen Teil einer Straße zwangsweise zugeordnet bekommen und über bestimmte Straßen in der Altstadt gar nicht mehr gehen dürfen?


Einer der Vortragenden an diesem Vormittag erläutert noch einmal, dass die zentralen Werte der israelischen Gesellschaft in der Aufbauphase Zyonismus kombiniert mit Sozialismus war.
Wolfgang Gehrcke (Ich verweise an dieser Stelle gerne auf seinen Reisebericht von der Nahostreise.) aus unserer Delegation verweist auch noch einmal auf den starken Einfluss jüdischer Kommunisten bei der Entstehung der Sowjetunion, der jüdischen Oblast Birobidschan und den Kampf innerhalb der kommunistisch-sozialistischen Internationalen, dass es auch einen starken linken Zyonismus gegeben hat, der zu einer ganz anderen Entscheidung vor 1933 hätte führen können.

Mit der Shoa – mit dem Holocaust – ist aber etwas im Massenbewusstsein der jüdischen Bevölkerung auf der ganzen Welt eingetreten, was bis in die heutige Zeit wirkt wie eine posttraumatische Gesellschaft. Eine der jungen Frauen sagt: „Was uns zusammenhält, ist die Angst auf Grund unserer jüngeren Geschichte“ und ergänzt dann, dass die große soziale Protestbewegung im November abrupt endete, als in Eilat das Blutbad passierte und andererseits der Raketenbeschuss aus dem Gaza-Streifen und aus dem Libanon-Gebiet kam.
Geistig-moralisch war auch die Protestbewegung auf einmal wieder in den Bunkern und Schutzräumen angekommen. Diese sind aber nicht nur die aus Beton gebauten, sondern sich auch in den Seelen befindenden Bunker und Schutzbauten, die zu einem sehr abrupten Ende der Protestbewegung geführt haben. Trotzdem gibt es den Protest, und gleichwohl haben wir am Vortag mit Dov Khenin von der Hadash Partei erlebt, dass es auch wirksame Kandidaturen gibt, mit denen man Kristallisationspunkte des Umsteuerns erreichen kann.
Dass der Vater des entführten Soldaten nun für die Arbeitspartei kandidiert und dass am Vortag der berühmteste Fernsehjournalist seine Kandidatur zum Präsidentenamt angekündigt hat, zeigt, dass Bewegung auf der Tagesordnung steht.


Am Nachmittag besuchen wir in Süd-Tel Aviv noch einen Stützpunkt der Frauenorganisation „Achoti“, die sich um soziale Brennpunkte kümmert und die auch an mehreren Stellen in Tel Aviv Läden und Betreuungsstrukturen unterhält.
Mit der Leiterin gehen wir in das älteste Lokal in Israel, das von iranischen Juden seit vielen Jahrzehnten betrieben wird. Das Essen kann ich hier nicht beschreiben, nur erwähnen, dass mir das Wasser schon beim Schreiben wieder im Mund zusammenläuft. Die Kombination aus arabischer und jüdischer Küche ist hier vortrefflich.
Warum kann man das Essen so schmackhaft und mit so vielen Gewürzen so lecker zusammenstellen, ohne dass es in trennende Komponenten zerfällt? Warum gelingt es nicht, das Patchwork im Nahen Osten zur Harmonie zu bringen, um in der Unterschiedlichkeit das eigentlich Neue und Hoffnungsvolle für die Welt zu kreieren?


So nachdenklich gehen wir in den Abend, bei dem wir einen Empfang geben im Journalistenclub von Tel Aviv, und wir treffen viele Freunde, die wir im Laufe der Reise kennengelernt haben. Ich persönlich treffe allerdings auch Freunde, die ich schon aus Deutschland kannte, und noch einmal den Botschafter, der in der Woche zuvor schon die Delegation unserer Ministerpräsidentin, Frau Lieberknecht, betreute.
Mit ihm spreche ich über den aktuellen Stand zur Jüdischen Fakultät in Erfurt, und er grinst still vor sich hin, als ich ihm den aktuellen Stand des Gesprächs in Erfurt erläutere, das ja nur wenige Stunden vorher in der Staatskanzlei in Erfurt stattgefunden hat.

Und wieder gibt es neue Bilder von der Reise.

Erfreuliches derweil aus Thüringen von meinem Freund Walter Homolka:
Homolka angetan von Thüringens klarer Position zu Jüdischer Fakultät