Ein Alptraum …

Mit harten Worten werde ich zur Rede gestellt: „Genosse Ramelow, warum kümmerst Du Dich um solche Nebensächlichkeiten und Absonderlichkeiten wie die Junge Gemeinde in Jena? Warum beschäftigen Du und Deine Genossen sich mit Dingen, die unser Land nicht voranbringen? Wäre es nicht wichtiger, mehr positive Beispiele zu liefern, um den Fünfjahresplan zu erfüllen?“ Fünfjahresplan? Seltsam! Woher kenne ich diese Formulierung?

Ich realisiere ein Bürozimmer mit einer klassischen Schreibtischanordnung, wie ich sie am Ende der DDR kennengelernt habe. Mir wurde damals gesagt, dass es sich dabei um die sogenannte Leninsche Büroanordnung handeln würde: quer zur Stirnwand ein großer Schreibtisch und längs davor ein länglicher Tisch, an dem sich links und rechts je drei Stühle befinden. Eine Sitzanordnung, bei der ich mich allerdings am Kopf des langen Tisches befinde und irgendwie das Gefühl habe, dass ich hier ziemlich scharf attackiert werde. Wer ist aber dieser ältere Herr, der mich in scharfen Worten zur Rede stellt? Und wo bin ich hier überhaupt? Bin ich in einen Zeittunnel geraten?
Jedenfalls redet der Herr auf mich ein und macht mir klar, dass ich meine Arbeitszeit mehr zum Nutzen unserer Menschen einsetzen solle und in den Dienst unserer Sache stellen solle. Was damit gemeint sein könnte, erschließt sich mir nicht – jedenfalls nicht gleich.

Er kritisiert mich, dass wir uns um den Jugendpfarrer Lothar König in Jena kümmern würden. Lothar König sei doch derjenige, bei dem die Staatsmacht schon am 22. August 1969 das erste Mal die Hausdurchsuchung vollziehen musste.
Schon damals sei doch Lothar König auffällig gewesen, denn immerhin hat er am Dorfplatz in seiner Gemeinde an die Wand geschrieben: „21. August Dubček“. Ja, dieses Ereignis vom 21. August und die Hausdurchsuchung am 22. August 1969 jährt sich jetzt wieder zum X. Male, und mittlerweile hat er auch wieder eine Hausdurchsuchung erleiden müssen.
Nur, hatten sich dazwischen nicht die Mächtigen geändert?

Warum fragt mich diese Person so beharrlich aus und verweist darauf, dass es sich doch jeweils nur um Belanglosigkeiten handeln würde?
Mir fällt auf, dass auf seinem Schreibtisch eine Zeitung mit großen Buchstaben liegt, in der eine reißerische Überschrift zu lesen ist: „Wie gefährlich ist dieser Pfarrer wirklich?“  Und dort heißt es, dass von Insidern gemeldet worden sei, dass es Fotos gäbe, die belegen, dass der Pfarrer am Tatort im Auto saß. Dann schreibt die Zeitung weiter: „Würde das zu einer Verurteilung führen, drohen ihm bis zu 6 Monaten Haft, und dann könne er ja mal über die Bergpredigt nachdenken, denn dort steht auch: “Selig sind die Friedfertigen …“.

Ich bin verblüfft und habe das Gefühl, in einem Zeittunnel gelandet zu sein.
Warum gibt es eine solche Kontinuität von Hausdurchsuchungen und Einschüchterungsversuchen von Staatsmächten und warum gibt es Medienvertreter – unabhängig von ihrer politischen Herkunft – die meinen, dass man doch so einen Zottelbart nicht als Pfarrer durchgehen lassen könnte oder so ähnlich.

Jedenfalls wirkt das alles ziemlich bedrohlich auf mich, und ich beschließe, das Gespräch zu beenden, den Raum zu verlassen und zu überprüfen, wo ich eigentlich bin. Beim Verlassen des Raumes steuere ich den Paternoster an und fahre nach meinem Eindruck aus dem 9. Stock eines Gebäudes am Juri-Gagarin-Ring in Erfurt Richtung Ausgang. Ich schaue aber noch schnell auf das Schild des Büros im 9. Stock und lese: Genosse Herrmann Werner und wundere mich.

In einem Schaukasten sehe ich Druckexemplare, und ich begreife, dass ich auch an einer Druckerei vorbeifahre. DAS VOLK lese ich und bin elektrisiert.
DAS VOLK? Sind das nicht die, die in Dresden am 19. Februar 2011 gegen Nazis demonstriert haben? War das nicht das Volk? Wollten wir Demokraten nicht, dass das Volk gemeinsam Gesicht zeigt gegen den braunen Ungeist? Sollte nicht jeder willkommen sein, der sich den Umtrieben der Nazis entgegenstellt und sollte nicht im Einklang mit der Rechtsprechung spätestens seit Mutlangen klar sein, dass auch Sitzblockaden lediglich eine Ordnungswidrigkeit und keine Straftat sind!
Aber wenn es heißt „DAS VOLK“, dann bin ich am falschen Ort und in der falschen Zeit. Dort kann man die Urteile von Mutlangen nicht kennen und wieso muss ich mich vor einem Chefredakteur rechtfertigen, warum sich meine Fraktion um Nebensächlichkeiten wie Lothar König kümmert?

Bin ich wieder in vergangenen Zeiten der DDR angekommen oder hat sich die Staatsmacht gewendet und neu hinzu gekommene Menschen kennen nicht die Historie der Jungen Gemeinde in Jena? Früher galt doch der Scherz mit bitterer Ironie, dass es, wenn man die DDR verlassen wollte, drei Möglichkeiten gibt. 1. versuchen zu flüchten mit der Gefahr, dabei getötet zu werden. 2. einen Antrag zu stellen auf Ausreise und jahrelang schikaniert zu werden oder 3. nach Jena zu fahren, sich in den Friedenskreis zu stellen und friedlich mit einer Kerze zu demonstrieren, was in der Regel zur Verhaftung und zur beschleunigten Abschiebung aus der Republik führte. Die Junge Gemeinde in Jena war jedenfalls immer unangepasst, und vor diesem Unangepasstsein hatte ich immer große Hochachtung.

Es geht mir das Gedicht durch den Kopf „Seid unbequem, seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt“, und natürlich bedeutet dies zivilen Ungehorsam – nicht als Straftat zu missverstehen – aber auch zivilen Ungehorsam nicht zu verwechseln mit Steinen oder selbstlegitimierter Gewalt. Alles dies geht mir durch den Kopf, und beklemmend wird mir klar, dass ich irgendwie in einem völlig falschen Film gelandet bin.

Es rumpelt, es knallt, ich realisiere Donner, erwache, bin in einem riesigen Gewitter und stelle fest. Ich hatte einen Alptraum. Die Realität ist allerdings, dass sich über der Stadt Erfurt ein riesiges Gewitter in den Morgenstunden entlädt, einhergehend mit einem wahnsinnigen Starkregen, und da, wo im Winter schon ein Schaden aufgetreten ist, läuft das Wasser direkt durch die Balken in die Wohnung. Dachschaden! Ich verteile überall Handtücher und alarmiere meinen Hausbesitzer.

Beim Kaffeetrinken dämmert mir langsam, welche quälenden Bilder mir im Alptraum durch den Kopf gegangen sind. Zum Glück ist das alles frei erträumt und Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen reiner Zufall. Natürlich würden Chefredakteure in der heutigen Zeit keine Redakteure mehr beauftragen, bestimmte Ziele und inhaltliche Vorgaben umzusetzen. Freier und unabhängiger Journalismus ist das Markenzeichen einer Demokratie, und Redakteure der heutigen Zeit würden sich niemals mehr gefallen lassen, was man sich zu DDR-Zeiten offenbar gefallen ließ. Es ist deswegen völlig abwegig, dass eine heutige Zeitung, selbst eine „Nachfolgezeitung“, über Ereignisse wie in Jena nicht so schnell wie möglich berichten würde. Schließlich ist die Berichterstattung völlig unabhängig. Ist sie doch, oder? Ich trinke lieber noch einen Kaffee und werde mal in die Zeitung schauen.