Nehmt die Gardinen ab.
Das Urteil ist nun schon ein paar Tage alt und ich bin an meinen Schreibtisch im Landtag zurückgekehrt (ab heute schreibe ich auch wieder regelmäßig Tagebuch). Trotzdem ist die Leipziger Entscheidung für mich immer noch Hauptthema, denn sie ist in ihrer Reichweite einfach nur erschreckend skandalös. Im Detail beschäftigt mich heute u.a. die Äußerung des Gerichts, dass ich aktuell ein hoher Parteifunktionär sei, während ich tatsächlich schon seit dem letzten Bundesparteitag nur einfaches Basismitglied der LINKEN bin. Ist das vielleicht die besondere Logik der Richter, eine falsche Entscheidung auch mit falschen Behauptungen zu begründen?
Bevor ich mich noch weiter über die Unsäglichkeiten des Urteils aufrege, will ich mich an dieser Stelle lieber für die vielen Solidaritätsbekundungen bedanken, die ich in den letzten Tagen über die vielfältigsten Wege erhalten habe. Schön fand ich auch die Idee von meiner Frau, in unserer Wohnung alle Gardinen abzunehmen, damit den „Verfassungsschützern“ beim Einholen von Informationen aus öffentlichen Quellen auch nichts im Wege steht bzw. hängt.
Eine ganz andere Form der Aufarbeitung des Urteils hat mir Wolf Wetzel per Mail geschickt: Ein Gedicht mit dem Titel „VerFassungslos“, das ich hier gern veröffentlichen möchte.
VerFassungslos
Man kann die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland
für einen schlechten Witz halten
angesichts dessen
was sie hätte hinter sich lassen müssen.
Man kann sie für einen elenden Kompromiss halten
damit alle die Filbingers, Gieseckes und Schleyers weitermachen konnten,
nahtlos, straflos, erfolgreich.
Man kann eine solche Verfassung verwerfen,
die die Opfer und Überlebenden des 1000 jährigen Reiches verhöhnt.
Man kann,
man muss sie nicht für das letzte Wort halten.
Das reicht in Gänze
im Verdacht der Verfassungsfeindlichkeit zu stehen
ausgesprochen
von jenen
die in den letzten Jahrzehnten alles getan haben,
genau jene Verfassung umzuschreiben, zu verstümmeln, mit Füssen zu treten
mit einer Macht und Gründlichkeit
von der jene nur träumen können,
die als Verfassungsfeinde überwacht, bespitzelt und verfolgt werden.
Wie oft haben in den letzten Jahrzehnten
Verfassungsfeinde
gewollt und unbeabsichtigt
eine Verfassung geschützt
vor jenen
die vorgeben sie zu verteidigen,
indem sie sie Stück für Stück abschaffen?
Wer hat das Grundrecht auf Asyl 1993 abgeschafft?
Wer hat die Verfassung 1999 gebrochen,
als die Bundeswehr einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien führte?
Wer wollte das in der Verfassung verankerte Verbot, die Bundeswehr im Inneren einzusetzen aufheben?
Gäbe es die Verfassung noch
in Wort und Tat
müsste man die Gefängnisse leeren,
viel Platz schaffen
für all jene Politiker, Juristen, Militärs, Wirtschaftskapitäne u.s.w.
die unisono den Verdacht weit hinter sich gelassen,
die Verfassung zu missachten,
indem sie fortgesetzten organisierten Verfassungsbruch betreiben.
Wolf Wetzel, 2010