Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt.
Heute Morgen halb neun verlasse ich die Wohnung in der festen Annahme spätestens zwei Stunden später wieder da zu sein. Den Hund lasse ich solange allein zurück, denn die kurze Zeit wird er ja wohl ohne Gesellschaft überstehen. Also auf zum Landtag und dort zunächst in die Morgenandacht – eine gute Tradition auf die ich auch heute nicht verzichten möchte. Dann finden wir uns alle im Plenarsaal ein, schließlich steht die Wahl der neuen Ministerpräsidentin auf der Tagesordnung. Was dann passierte, war allerdings so spannend, dass es mittlerweile allseits bekannt sein dürfte. Vier Abgeordnete der Schwarz-Rosa-Koalition verweigern Frau Lieberknecht in zwei Wahlgängen ihre Stimme. Schon nach dem ersten gescheiterten Versuch klären wir in unserer Fraktion, dass wir auch kandidieren, falls es tatsächlich zu einem dritten Anlauf kommt und so war es ja dann auch.
Mit der Kandidatur ging es uns vor allem darum Klarheit zu schaffen und den Abgeordneten eine Auswahl anzubieten. Hinterher habe ich sehr viele positive Rückmeldungen für die Entscheidung bekommen. Einige Freunde sind aber auch skeptisch, ob wir auf diese Weise nicht Frau Lieberknecht zu etwas verholfen haben, dass sie ohne uns nicht bekommen hätte. Dazu muss ich sagen, dass unsere Rolle da doch etwas überschätzt wird. Ein Blick in die Verfassung des Freistaates Thüringen (Artikel 70, Absatz 3) bringt Klarheit:
„Der Ministerpräsident wird vom Landtag mit der Mehrheit seiner Mitglieder ohne Aussprache in geheimer Abstimmung gewählt. Erhält im ersten Wahlgang niemand diese Mehrheit, so findet ein neuer Wahlgang statt. Kommt die Wahl auch im zweiten Wahlgang nicht zustande, so ist gewählt, wer in einem weiteren Wahlgang die meisten Stimmen erhält.“
Im dritten Wahlgang reicht es also, die meisten Stimmen zu erhalten. Wenn es nur einen Kandidaten/ eine Kandidatin gibt, muss diese/r mehr Ja-Stimmen als Nein-Stimmen erhalten. Da Frau Lieberknecht in den ersten beiden Wahlgängen schon jeweils 44 Ja-Stimmen von den 87 Anwesenden erhielt, hätte das im letzten Durchgang auf jeden Fall gereicht. Für eine Nichtwahl hätten alle 43 anderen Abgeordneten mit Nein stimmen müssen und eine/r hätte noch zusätzlich umschwenken müssen – das war praktisch ausgeschlossen. Man kann das auch nur schwer mit Heide Simonis in Schleswig-Holstein vergleichen, denn dort gab es drei mal hintereinander eine Pattsituation von 34 zu 34 Stimmen bei jeweils einer Enthaltung. Unabhängig von all diesen Rechnungen wäre es auch kein gutes Signal für die Demokratie gewesen, wenn Frau Lieberknecht wirklich nicht gewählt worden wäre. Auch wenn ich alles andere als ein Fan dieser neuen Landesregierung bin, will ich doch darauf verweisen, dass die Koalition angekündigt hatte Frau Lieberknecht zu wählen und wir Politiker sollten generell auch das machen, was wir sagen. Sonst braucht es auch keinen Koalitionsvertrag, der von Parteitagen beschlossen wird. Verlässlichkeit sollten wir den Bürgern schon bieten, auch wenn sie in der Umsetzung in diesem Fall nicht meinem Geschmack entspricht.
Nach der Landtagssitzung musste ich noch jede Menge Medienanfragen beantworten, bevor ich Attila nach vielen Stunden von seiner Einsamkeit in der Wohnung erlösen konnte. Dann haben wir uns auf den Weg nach Berlin gemacht, denn ein alter Freund und Kollege von der HBV feiert seinen 60. Geburtstag. Da will ich natürlich dabei sein, gerade nach so einem spannenden Tag.