The day after

Halb acht setze ich mich in die S-Bahn am Ostbahnhof, denn im Bundestag wartet immer noch eine dicke Postmappe auf mich, die durchgearbeitet werden muss. Nach dem Aussteigen in der Friedrichstraße gehe ich noch schnell an meinem gut sortierten Stamm-Zeitungsladen vorbei und kaufe mir alle Thüringer Zeitungen, die heute alle ein ähnliches Bild auf dem Titelblatt haben. Alle zeigen den Noch-Ministerpräsidenten, meist vor blauem Hintergrund. Die Kommentare und Einschätzungen unterscheiden sich dagegen erheblich.

Im Büro bekomme ich dann einige sehr schöne Bilder zu sehen, die am Samstag bei der Geburtstagsfeier von Christian Paschold gemacht wurden. Da kommen auch gleich die Erinnerungen wieder, an die18-jährige Geiselhaft, die ein überraschend positives Ende fand. Lenins Hals, der umzugsbedingt gebrochen war, ist repariert und Karl Marx hat frische Farbe. Wer hätte gedacht, dass die Klassiker am sechzigsten Geburtstag von Christian Paschold aus eben dessen Händen befreit werden können. Während er behauptet, er hätte 18 Jahre Bewachungspflichten erledigt und noch prüfe, ob er Lohnansprüche geltend machen müsste, muss ich festhalten, dass mir beide Klassiker unter Vortäuschung von Tricks von Paschold 18 Jahre lang unterschlagen wurden. Der Künstler brauchte vor 18 Jahren eine Marxbüste, um ein Kunstwerk zu schaffen. Über eine gemeinsame Freundin erfuhr er, dass ich selbige vor der Vernichtung gerettet hatte (bekloppter Wessi nimmt Marx mit nach Hause) und die Galionsfigur vom Kombinat WTB nun in Punkthochhaus am Johannesplatz stand. Da Vladimir Iljitsch mir von der BGL Konsum zugelaufen war, vereinten sich beide Büsten in meiner Plattenbauwohnung. Beim Umzug innerhalb des Punkthochhauses verunfallte Vladimir Iljitsch schwer und brach sich den Hals. Als Christian Paschold dann nach Marx fragte, überredete ich ihn zu dem Deal, dass er Marx bekommt, wenn ich Lenin fachlich korrekt geheilt bekomme. Zum Schluss hatte ich statt Marx nur Murx und war beide Klassiker los. Diverse Umzüge später sind wir nun glücklich wieder vereint worden. Ich weiß nur noch nicht, wie Attila und die beste aller Ehefrauen auf diesen Zugewinn in unserer Wohnung reagieren werden. Vorläufig habe ich den Gartenzwerg „Bodo kehrt aus“ aus Georgenthal zwischen die Köpfe gestellt und warte bange die Reaktion der weiteren Bewohner unserer schönen Wohnung ab. Aber nichts für Ungut Christian, es war eine sehr schöne Feier. Alles Gute auch für die nächsten 60 Jahre!

Heute Abend durfte ich dann unsere Vizepräsidentin des Bundestages, Petra Pau ins Jüdische Gemeindehaus zur Gedenkveranstaltung an den Aufstand im Warschauer Ghetto begleiten. Gemeinsam beteiligen wir uns auch an der Verlesung der Namen von 55 696 Berliner Juden, die von den Nazis ermordet wurden.