Ein paar Sonntagsgedanken zu Alltäglichem
Eine Gastkolumne von Pröpstin Elfriede Begrich: Im Kalender unserer Kirche hat jeder Sonntag einen Namen. Heute, am 8. März heißt der Sonntag “Reminiscere!” oder auch “Recordare!” und stellt damit die ganze heute beginnende Woche unter dieses Thema: “Gedenke! Erinnere dich!” Es ist ja erst einmal erfreulich, daß man sich des 8. März als des Internationalen Frauentages oder wie er heute heißt, des “Weltfrauentages” wieder erinnert. Wie schön und wie bitter nötig!
Das wirkliche Gedenken ist ein Eingedenken, ein Einholen von etwas, das schon mit dem Stempel “erledigt” besiegelt ist. Gedenken öffnet ad acta gelegte Geschichte. Unser Land befindet sich in einem Gedenkmarathon, im Erinnerungswettlauf, wobei sich so manches verschiebt und überlagert. Zum Schaden und zu Verfälschung. In einem Atemzug kommentarlos von den zwei Diktaturen zu reden, was für eine böse Verharmlosung der Naziherrschaft! Die DDR-Zeit auf die (ohne Frage furchtbaren!) Stasiverbrechen zu reduzieren – was für eine Einseitigkeit. Grund und Ziel der “Wende” mit der Wiedervereinigung Deutschland zu identifizieren- was für eine Verkürzung.
Ich nehme den Aufruf dieses Sonntags ernst: Erinnere dich! Gedenke! Gedenke der Tage im Jahr 1989. Zum Beispiel. Nicht nur des Herbstes, sondern aller 7. des Monats vom 7. Mai, dem Tag der Wahl und deren bekanntgemachter Fälschung, bis zum 7.Oktober 1989. Da waren wir noch ein kleines, zitterndes Häufchen auf dem Alexanderplatz in Berlin. Aber dann war es soweit: Die unermüdlich seit vielen Jahren im ganzen Land brennenden Kerzen in den Kirchen für den Frieden verbinden sich zu dem großen Kerzenmeer auf den Straßen, das neben Licht und Wärme die Kraft der Gewaltlosigkeit ausbreitet. Mit Kerzen und Gebeten für einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz. Mit Kerzen und Gebeten für ein Land in Demokratie und Freiheit. Mit Kerzen und Gebeten für eine Wirtschaft in Gerechtigkeit. Mit Kerzen und Gebeten für einen dritten Weg.
“Art. 23 – Kein Anschluß unter dieser Nummer” stand lange Zeit an so manchen Haustüren. Auch an unserer. Es war ein Aufbruch zu neuen Ufern, nicht zu denen, an denen wir uns jetzt befinden. Wir sind angekommen in einer Gesellschaft, in der die kapitalistische Wirtschaftsform Blüten treibt, wie wir sie im Schulbuch in DDR-Zeiten gelernt und als Propaganda abgetan haben. Von “Refeudalisierung Deutschlands” ist heute die Rede. Wir sind Zeugen, wie durch ein System der Ungerechtigkeit und Maßlosigkeit, Gier und Egoismus in diesem Tagen immer mehr Menschen in den Strudel von Armut und Hilflosigkeit, Entwürdigung und Namenlosigkeit gestürzt werden. Nein, erinnere dich, da wollten wir nie hin, auch heute nicht.
Der Berliner Theologe Friedrich Wilhelm Marquardt hat einmal gesagt: “Das Evangelium stellt den Christen nach links” Ja, auch dort hin, aber vor allem zu denen, die unten sind, die verloren zu gehen drohen, die getreten und vergessen werden. Und zu allen, die die Hoffnung und Träume auf eine Gesellschaft, die eine Gemeinschaft ist, nicht aufgeben. Reminiscere! Gedenke, wenn die Träume sich nicht erfüllen oder in verkehrte Hände geraten, dann sind doch nicht die Träume daran schuld! Gedenken öffnet ad acta gelegte Geschichte. Auch die in der der Bibel festgehaltene. “Ein Volk ohne Visionen geht zugrunde” (Sprüche 29,18). Eine der biblischen Grundvisionen heißt: “Es ströme aber das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach”. (Amos 5,24) Vor kurzem habe ich einen jungen Juristen unter diesem Wort getauft. Eine große Hoffnung, die sich hier festmacht, daß Recht und Gerechtigkeit Hand in Hand gehen werden. Geltende Leitlinien dazu finden wir wie einen roten Faden in den biblischen Geschichten und der dort aufgezeichneten Geschichte GOTTES mit den Menschen.
Die Geschichte des Aufbruchs zu einem neuen Ufern muß offen bleiben, zur Einsicht und zur Umsetzung. Heute mehr denn je. Der jüdische Aphoristiker Elzar Benyoez schreibt in seinem Buch: “Die Zukunft sitzt uns im Nacken”
“Zukunft
kann nicht abgewartet werden,
sie muß, wenn sie kommt,
schon ausgewartet sein.”
In diesem Sinne: eine gute Wochen voller ausgewarteter Zukunft.
Schalom E. Begrich