Zweitausend Jahre Weisheit

Bei der Vorbereitung meiner Reformationstagspredigt habe ich mich wieder einmal intensiv mit dem Philipperbrief des Apostels Paulus beschäftigt. Vor fast zweitausend Jahren schrieb Paulus an die Gemeinde in Philippi einen aufmunternden, ermahnenden, aber auch emotional aufwühlenden Brief, damit die Gemeinde Kraft zum Durchhalten hat. Dort in Philippi entstand auf dem heutigen europäischen Festland die erste christliche Gemeinde, und der Apostel Paulus hatte eine große emotionale Bindung an diese Gemeinde. Während es üblicherweise am Reformationstag um die Passagen geht, bei denen vom „Fürchten und Bangen“ gesprochen wird, fiel mir im 2. Kapitel eine Zeile besonders auf:

„Tut nichts aus Eigennutz oder um eitler Ehre willen, sondern in Demut achte Einer den Anderen höher als sich selbst. Und ein Jeder sehe nicht auf das Seine, sondern auch auf das, was dem Anderen dient.“

Stellen wir uns heute einmal vor, dass dieser fast zweitausend Jahre alten Text in Stein gemeißelt vor jeder Bank auf der Welt und noch mehr vor jedem Hedge-Fonds, vor den Börsen dieser Welt, aber auch vor den Parteizentralen zu lesen wäre – als eine Mahnung an die Akteure dort, dass sie nichts aus Eigennutz oder um eitler Ehre willen tun sollen,
und dass man nicht nur im Ergebnis auf das Seine blicken sollen, sondern vielmehr den Mehrwert darin erkennen, was den Anderen dient. Ein Zuwachs von Nutzen, welchen man daraus zieht, dass der Nutzen einem Anderen, dem Nächsten dient. Da bekommt der Begriff der Nächstenliebe oder der Gemeinwohlorientierung wieder eine neue moralische Kraft.
Ich denke, dass der Apostel Paulus diese Zeilen geschrieben hat, weil ihm die menschliche Natur nicht unbekannt war, weil Dinge wie Neid und Gier leider im Menschen angelegt sind. Gehört dies möglicherweise zu den Urinstinkten, so müssen wir uns moralisch damit auseinandersetzen. Die zivilisatorische Kraft entsteht erst, wenn wir diese inneren Kräfte so sortieren, dass wir ihnen eine Richtung geben und dass wir erkennen, dass es einen hohen Eigennutz gibt, wenn man zuvörderst an den Nutzen für den Anderen denkt. Biblisch gesehen, sind das die Zeilen, die sich auch mit der Aufforderung decken: Einer trage des Anderen Last.

Auf die heutige Zeit bezogen, wäre dies die Begründung für ein modernes Lastenausgleichsgesetz. Der, der mehr Last tragen kann, soll auch mehr Last übernehmen, und zwar mit Freude, denn es würde uns allen dienen, wenn wir zügig den Ausbau, die Modernisierung oder Sanierung unserer Schulen, unserer Kindertagesstätten vorantreiben würden. Die aufgehäuften Staatsschulden zusammenzufassen und mit einem modernen Schuldenmanagement im Rahmen einer Bundesschuldenverwaltung öffentliche Kassen wieder zu entlasten und den Schuldenabbau mit einer Realbesteuerung im Rahmen eines Lastenausgleichsgesetzes zu kombinieren, das alles ließe sich aus der biblischen Vorlage ableiten. Nicht nur „Einer trage des Anderen Last“, sondern den berühmten „Zehnten“,
den man hergeben soll. Das wird gerne verwechselt mit den Steuersätzen, die aus laufendem Einkommen erzielt werden. Der Zehnte bezog sich aber auch auf Vermögenswerte. Stellen wir uns heute einmal eine Realbesteuerung auf sämtliche Vermögen vor, sodass eine Sonderabgabe von zehn Prozent des Vermögens betrieben würde, um sämtliche aufgelaufene Staatsschulden gemeinsam zu finanzieren!