Bettgeschichten oder Schlüsselloch-Vojourismus

Der Tag war geprägt von der Haushaltswoche im Bundestag, Sitzungsmarathon ohne Ende. Es begann mit einer Telefonkonferenz und ging weiter bei einem Frühstück mit einem Vertreter der Muslime in Deutschland. Danach eine lange Beratung mit Verdi über die Frage, wie es ermöglicht werden kann, dass im Bundestag endlich keine mitbestimmungsfreien Räume mehr existieren. Immerhin haben die über 3600 Arbeitnehmer, die bei uns Bundestagsabgeordneten tätig sind, keinen Betriebs- oder Personalrat. Jetzt, nach über 3 Jahren intensivem Agieren, sehen wir zum ersten Mal eine Chance, ein Problem zu lösen, an das sich noch nie jemand herangetraut hat. Immerhin hat unsere Fraktion einen Betriebsrat und auch einen Haustarifvertrag. Nun haben wir durch das Bohren dicker Bretter erreicht, dass auch die anderen Fraktionen per Rechtsgutachten anerkennen müssen, dass überall MITBESTIMMUNG ermöglicht werden muss. Das Gutachten sagt, es gibt auch im Bundestag keine mitbestimmungsfreien Zonen. Endlich ein großer Schritt zur Klarheit. Jetzt muss Verdi die nächsten Schritte unternehmen. Wir werden das aktiv unterstützen. Es wäre doch eine große Sache, wenn es uns gelängen, endlich im Deutschen Parlament gleiche Rechte für alle Arbeitnehmer durchzusetzen. Zähigkeit zahlt sich aus, auch wenn ich am Anfang selbst aus Arbeitnehmerkreisen belächelt wurde. Jetzt, am Ende meiner Bundestagszeit könnte eine neue Ära beginnen, wenn die Beschäftigten mit Verdi Ihre Chance nutzen.

Am Nachmittag wurde ich von einem Video-Journalisten besucht, der für ein neues Thüringer Internetportal ein Interview wollte. Ein etwas seltsamer Name, der bei dem Portal zur Anwendung kommen soll. Ist “www.tollesthueringen.de” nicht eher ein Karnevalsname? Ich habe mir trotz Haushaltswoche und Parlamentsstress dennoch die Zeit genommen und brav geantwortet, was ich an Thüringen toll finde, oder ob die Thüringer Bürger mich als ehemaligen Westdeutschen denn überhaupt wählen würden. Irritierender fand ich die Frage, wenn doch Thüringen so katholisch ist, warum man mich da als Protestanten wählen sollte. Ich habe freundlich gesagt, dass Thüringen das Stammland des Protestantismus ist. Stotternheim, Augustinerkloster, Wartburg, Bibelübersetzung, Luther, 2017! Mal abgesehen davon, ist die übergroße Mehrheit der Thüringer überhaupt keiner Religion zuzuordnen und nur eine kleine Minderheit katholisch.

Aber die Wählerinnen und Wähler sollen mich für unser politisches Angebot wählen: Direkte Demokratie, längeres gemeinsames Lernen, für einen gesetzlichen Mindestlohn, gegen Niedriglohn als Faktor der Standortwerbung und für einen Masterplan zur Energiewende. Alle Themen eben, die von der Thüringer CDU aus ideologischen Gründen verweigert oder abgelehnt werden. Schließlich wurde ich noch nach meinem Privatleben gefragt. Ich weiß nur nicht, was die Frage nach der Anzahl der Ehen mit unseren politischen Grundaussagen zur bevorstehenden Landtagswahl zu tun hat. Oder muss ich mich messen lassen mit der Anzahl von Ehen des früheren Bundeskanzlers Schröder bzw. des Außenministers Fischer? In diesen Wettbewerb will ich wirklich nicht einsteigen, aber auch nicht in die Bewertung von Dementis über angebliche uneheliche Kinder oder den Gerüchten um scheinbar glückliche Ehen und vermeintliche Fehltritte! In der Politik sollten Ideen, Fähigkeit, Ausstrahlung und Handlungskraft zählen und nicht Bettgeschichten oder Schlüsselloch-Vojourismus! Mal sehen, was da tatsächlich am 1.12.2009 aus dem Internet schlüpft und was sich hinter dieser Webplattform zeigen wird. Ich bin gespannt!

Den Abend verbringe ich im Hause der EKD. Ein Abend für die evangelischen Bundestagsabgeordneten aller Fraktionen zum Thema Reformaufbruch der Evangelischen Kirche. Und da ist es wieder das Lutherthema 2017, das 500’tste Jubiläum der Reformation. Zehn Jahre Lutherdekade liegen vor uns. Ich bin froh, dass wir im Wahlkampfteam darüber intensiv gesprochen haben. Auch das gehört zu Thüringen, wie Bauhaus, Arbeiterbewegung, die Gothaer Vereinigung der Arbeiterparteien und der Erfurter SPD Parteitag. Thüringen das Stammland vieler wichtiger Traditionen. Von der Kleinstaaterei über die Reformation zur Weimarer Republik. Von der Bratwurst und Rennsteig über Schott und die Lichtleiter zum MP3-Player. Von der Solarenergie über Biogastechnologie. Das alles ist Thüringen. Da macht es mich vergnügt, abends bei den Kirchenleuten genauso gerne über Thüringen zu reden, wie mit dem jungen Mann, der mich interviewt hat und offenkundig wenige Kenntnisse über Thüringen hatte. Aber ich bin eben schon 198990 nach Thüringen gekommen. Da gab es z.B. noch die Abteilung Handel und Versorgung und ich durfte da vortragen. An diese skurrile Situation kann ich mich noch erinnern. Auch das ich viele der Damen und Herren später häufiger wieder traf. Bei der Treuhand oder in Arbeitgeberverbänden. Deshalb wundere ich mich, dass sich der sächsische Ministerpräsident Tillich nicht mehr so genau an seine Zeit bei Handel und Versorgung in Kamenz erinnern kann. Eine sehr selektive Erinnerungsleistung, die einem manchmal bei CDU Politikern im Osten begegnet. Aber selbst danach werde ich beim Abendessen gefragt. Von der Bezirksorganisation Jugendweihe bis zur Abteilung Handel und Versorgung. Soviel DDR-Neugier gab es schon lange nicht mehr.