Straffes Programm

Der Landrat von Tarsus verschafft uns, wahrscheinlich unfreiwillig, tiefe Einblicke in das Funktionieren oder auch Nichtfunktionieren des staatlichen Systems der Türkei.
Wir stehen an der Geburtsstätte des Apostels Paulus in Tarsus und können die wunderbar restaurierten Orte aus der Zeit, in der Paulus gelebt hat, besichtigen. Man sieht, wunderbar hergerichtet, den Brunnen, der auch der „Paulus-Brunnen“ genannt wird, ein Brunnen, der an der Stelle rekonstruiert und restauriert wurde, an der höchstwahrscheinlich einst die jüdische Gemeinde und das jüdische Siedlungsgebiet existiert haben.

Wir werden freundlich begleitet, immer sind um uns herum Sicherheitsbeamte, die darauf achten, dass wir fein behütet sind. Wir treffen dann den Landrat, der vor vier Wochen neu ins Amt gekommen ist. Mit ihm gibt es eine Diskussion bzw. ein Gespräch, u. a. auch über die Frage, ob es gelingt, in Tarsus ein Pilgerzentrum einzurichten für die all die Menschen auf der ganzen Welt, die so wie wir an den Ort kommen wollen, um auf den Spuren des Apostels Paulus und im Kerngebiet der christlichen Religion selbst der Religionsentstehung nachspüren zu können. Er ist freundlich und verweist darauf, dass die Kirche, die in Tarsus zurzeit wieder zugelassen ist, um auch dort Gottesdienste und religiöse Zeremonien durchzuführen, auch heute benutzt werden kann. Er würde sich freuen, wenn „die in Ankara“ das Wort „Museum“ von der Kirche streichen würden. Er meint damit, dass der Besitz der Kirche aus dem entsprechenden Ministerium übertragen würde, sodass es kein Museum mehr wäre. Zurzeit ist es so, dass Gläubige, die die Kirche besuchen wollen, Eintritt bezahlen müssen wie für jedes andere Museum in der Türkei. Wenn aber eine Gruppe angemeldet ist und möglicherweise, so wie wir auch, eine Andacht halten will, dann sei dies selbstverständlich ohne Eintritt zu gewährleisten. Schwierig ist immer, dass man das rechtzeitig ankündigt und wem gegenüber man das tut. Denn hier geht es u. a. auch darum,
ob in Tarsus ein fest installiertes Pilgerzentrum dauerhaft seine Wirkung entfaltet.
Er lächelt freundlich und sagt, diese Entscheidung, die er sehr begrüßen würde, muss natürlich in Ankara getroffen werden, denn er als Landrat könne das nicht entscheiden.

Die uns begleitenden Menschen aus der Türkei, die sich mit diesen Fragen gut auskennen, sagen uns nach dem Gespräch, dass wir hier die klassische Ping-Pong-Methode kennengelernt haben. Der Landrat könne gar nichts anderes sagen, weil er diese Entscheidung hier vor Ort nicht treffen könne. Wir sollen die Frage am kommenden Tag in Ankara dann tatsächlich in den entsprechenden Ministerien wiederholen.

In der Nacht fliegen wir weiter, zum dritten Mal wechseln wir den Ort innerhalb der Türkei und man spürt, wie gigantisch groß dieses Land ist mit seinen über 70 Millionen Einwohnern und all den Unterschieden, die erkennbar sind, zumindest die Unterschiede zwischen Stadt und Land, aber auch zwischen dem Süden und den Osten, dem Norden und dem Westen.

In Ankara haben wir ein straffes Programm vor. Dort werden wir auch den Fragestellungen des Landrats von Tarsus nachgehen. Zuerst besuchen wir die islamische Religionsbehörde. Für deutsche Verhältnisse sehr schwer zu begreifen – sämtliche Imame der Türkei sind quasi öffentliche Beamte dieser Behörde. Die Fragen, die wir dem Vorsitzenden der Behörde stellen, beziehen sich u. a. auf das Verhältnis zu den Minderheiten im Land. Wir fragen nach den Aleviten, wir fragen nach den Christen und wir fragen auch nach dem Pilgerzentrum in Tarsus. Und siehe da – zu unserer Verblüffung sagt er freundlich, dass er sehr für dieses Pilgerzentrum wäre, weil er durchaus wüsste, welche Bedeutung Tarsus und die Paulus-Wurzeln für die Christenheit auf der Welt hätten. Dann macht er einen für uns erstaunlichen Schwenk und sagt, die Grundstücke für so ein Projekt müssten natürlich von den örtlichen Behörden zur Verfügung gestellt werden, das liege also in der Hand des Landrats. Und somit haben wir Ping-Pong auf Türkisch erlebt.

Wir kommen mit ihm ins Gespräch über das Alevitentum und er erklärt uns, dass wir
von unseren deutschen Gesprächspartnern über das Alevitentum in der Regel das Falsche,
das Unzutreffende erfahren würden, denn das Alevitentum würde ganz klar zum Islam gehören. Und auch hier erleben wir in wenigen Stunden die Wechselfälle des türkischen Lebens. Anschließend besuchen wir nämlich die größte alevitische Organisation im Land und werden dort freundlich begrüßt. In den Einführungsworten wird aber klar darauf hingewiesen, dass alle Schriften in der Türkei die Feststellung beinhalten würden, 99 % aller Türken seien Muslime. Das sehen die Aleviten als großes Problem an, denn sie fühlen sich nicht dem muslimischen Glaubensritus unterworfen. Sie gehen in keine Moschee, sondern benutzen als ihren heiligsten Ort die Cem-Häuser. Und auch hier eine erstaunliche Perspektive, denn alle Cem-Häuser in der Türkei sind baurechtlich faktisch illegal. Da man sie nicht als heiligen Ort, nicht als Ort der religiösen Begegnung der Aleviten ansieht und auch in Veröffentlichungen lange Zeit immer wieder zu lesen war, dass die Aleviten ja in die Moscheen gehen könnten, haben über tausend Cem-Häuser in der Türkei faktisch keinen berechtigten Status. Hier geht es den Aleviten wie den Christen.
Ich ahne, dass die Frage, der wir nachgespürt haben – ob es eine diskriminierende oder ignorierende Form gegenüber der christlichen Minderheit gäbe – ihre Entsprechung findet im Umgang mit den Aleviten.

Die weiteren Gespräche des Tages waren davon geprägt, dass es eine große Angst in der Türkei gibt. Ich verstehe langsam, warum die Herangehensweise der staatlichen Institutionen dabei so träge und angstvoll ist. Man hat nach meinem Dafürhalten Angst davor, dass eine aggressive, missionierende Form des Islam um sich greifen könnte, den man in der Türkei unter keinen Umständen erleben möchte. Hier gibt es eine Rückbeziehung auf Kemal Atatürk, die Kemalisten, für die es von besonderer Bedeutung ist, dass die Trennung von Staat und Kirche massiv aufrecht erhalten und durchgehalten wird. Das, was wir möglicherweise als Diskriminierung gegenüber Christen erahnen, entpuppt sich als Schutzmechanismus vor dem, was wir in anderen Staaten der Erde bzw. rund um die Türkei als Fundamentalismus oder Islamismus besichtigen können.

Ich glaube, nun besser verstanden zu haben, dass ein Weg der wechselseitigen Akzeptanz nur darin bestehen kann, dass die Aleviten als größte Gruppe in der Türkei eine eigene Deutungshoheit darüber bekommen, wie sie sich selber als religiöse Gruppe in der Türkei verstehen. Das heißt, die religionskundlichen Bücher in den Schulen müssen so sein, dass die Aleviten, die alevitischen Glaubensgemeinschaften sie für sich akzeptieren können.  Wenn dieses als Diskriminierung empfundene Gegeneinander aufhört, wird es auch neue Wege geben, wie sich unterschiedliche Religionen friedlich und freundlich innerhalb der Türkei begegnen können.

Wir sind nur Gäste, wir sind Pilger auf dieser Reise, und wir sind erstaunt, wie interessiert unsere Gesprächspartner auch an unseren Sichtweisen sind. Und wir lernen, dass der Weg der Türkei in die Europäische Gemeinschaft einen Perspektivwechsel beinhaltet innerhalb der Türkei auf Europa, aber auch von Europa auf den Islam.

Und ich bin wieder an der Stelle angekommen, bei der ich immer wieder das Gefühl habe, dass die abrahamitischen Religionen innerhalb Europas lernen müssen, sich wechselseitig zu tolerieren.