Verzuckerte Einschulung und bitteres Erwachen
Da ich in Berlin heute nur meine kompletten Steuerunterlagen des Jahres 2007 sortiere und das wirklich nicht spannend ist, schreibe ich ins Tagebuch lieber – passend zu den heutigen Einschulungsfeiern für viele Thüringer Kinder – einen Text über meine eigene Schuleinführung:
Eines frühen Morgens scheuchte mich meine Muter aus meinem kuschelig warmen Bett. Irgendwie war mir nicht klar, dass Samstag ist, aber sie hatte schon die neuen Anziehklamotten hingelegt, eine schicke Lederhose mit breiten Hosenträgern. Damit sollte ich jetzt quasi mitten in der Nacht in die Finndorf-Volksschule marschieren. So nahm das Drama seinen Lauf.
Hingelockt mit neuen Anziehsachen und am Ort des Geschehens überrascht mit einer Zuckertüte wurden die kindlichen Sinne vernebelt mit Süßigkeiten und einem roten Feuerwehrauto. Danach kam es zum ersten Fotoshooting meines Lebens. Alle mit mir zusammen ebenso dahin gelockten Kinder aus unserer Nachbarschaft stellten sich in Reih und Glied auf und wurden gemeinsam abgelichtet. Danach noch Einzelbilder in einer irgendwie quälenden, lästigen Holzbank. Im Hintergrund kryptische Zeichen und bunte Bilder. Die kryptischen Zeichen entpuppten sich als die einzelnen Buchstaben des Alphabetes und die Bilder zeigten das dazu gehörige Wort an. Für mich prägend war das Wort „Vogel“ und das passende Bild dazu. Nicht zu verwechseln mit Bernhard, den ich erst am Ende meiner Schulkarriere in Rheinland-Pfalz kennen lernen durfte.
Das seltsame Hochgefühl des ersten Tages schwand aber schnell und schon wenige Tage später wurde es jäh beendet. Nach der Versüßungsaktion kam nämlich der bittere Preis – täglich aufstehen und an diesem seltsamen Ort mit den noch seltsameren Bänken pünktlich erscheinen. Oh Graus! Bevor ich allerdings morgens den Klassenraum betreten konnte, war die größte Herausforderung ein Schulweg von über zwei Kilometern. Zwischen unserem Haus und der Schule war der große dunkle Stadtwald. Kein Schulbus konnte unseren Transport erledigen und keine Eltern konnten uns in die Schule bringen, denn wir hatten ja auch kein Auto. Also zu Fuß gehen oder noch schneller lernen Fahrrad zu fahren. Da ich der Jüngste von vier Geschwistern bin, gab es einen wunderbaren ballonbereiften Tretroller. Den Famillienroller! Eingerollert von meinen Geschwistern! Aus Anlass der Einschulung kam ich zu der Ehre, den Schulweg ab sofort tretender Weise, aber stolz wie ein Spanier rollern zu dürfen. Und so kam es morgens zum Wettrennen mit meinem größeren Bruder.
Da er die Geheimnisse des Radweges schon kannte, ließ er mich in der Kurve generös überholen und ich trampelte ins Verderben. Bei dieser Geschwindigkeit, die ich mit meinen kurzen Beinen und den umso größeren Ballonreifen erreichte, war das Ende unvermeidlich. Rumms, und die Fahrt endete vor dem Baum. Vorderachse gebrochen, neue Hose zerrissen und Gesicht völlig verschrammt. Mein Bruder schickte mich mit gehässigem Blick nach Hause und fuhr weiter in die Schule. Ich schlich mich wie ein geprügelter Hund nach Hause und stellte heimlich das lädierte Gefährt vor dem Fahrradladen meiner Großeltern ab, in der Hoffnung, dass eine Fee die Reparatur vornimmt und nicht mein Großvater mit dem zu erwartenden Gezetere meiner Großmutter. Als dies vollbracht war, zog ich mich für den Rest des Tages an meinen Lieblingsbach zurück und ging meiner Vorschullieblingstätigkeit nach – im Matsch spielen! Der Rest der Klamotten war somit auch verdreckt. Die Gardinenpredigt des Abends von meiner Mutter war fürchterlich und ab diesem Zeitpunkt wusste ich, warum es heißt, dass mit der Einschulung der Ernst des Lebens beginnt. Ehrlich gesagt, es blieb der einzige Schwänztag meines Lebens. Und trotzdem geht meine Aufmunterung an alle Einzuschulenden, denn Fahrrad fahren ist gefährlich, ungebildet sein ist aber viel gefährlicher und Bildung macht Spaß!