Wenn der Wecker dreimal klingelt

Ein ätzendes Geräusch belästigt mich im Tiefschlaf. Oje – wo bin ich, und was ist das für ein Geräusch! Schrecklich! Es dauert eine Zeit, bis mein Schlaf überwunden ist und ich einigermaßen einordnen kann, dass ich in meinem Bett liege und dass das ätzende Geräusch der Wecker meiner Frau ist. Normalerweise geht zuerst mein Radiowecker an, aber heute ist der schreckliche Katastrophenrappler scharf gestellt, um uns aus dem Bett zu zwingen. Ich bin aber doch gerade erst hineingegangen, da ich nach der intensiven Podiumsdiskussion in Gera mehrere Stunden im Auto verbracht habe, um dann völlig aufgedreht und übermüdet in die Federn zu fallen. Vier Stunden Bett sind einfach deutlich zu wenig. Hilft nichts – Germana muss nach Leipzig und will mit mir mein Fluggepäck für Israel noch durchsprechen, und schön ist es ja auch, wenigstens ein paar Sekunden gemeinsam zu haben, bevor beide ihre Koffer schnappen und zehn Tage Weltreise dazwischen liegen, bis man sich wiedersieht.

Dann sind meine Gedanken ganz schnell wieder bei der Podiumsdiskussion in Gera. Der Landesverband der Bündnisgrünen hatte aufs Podium gebeten: Siegfried Reiprich, den stellvertretenden Direktor der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, den Geraer Bürgerrechtler Frank Karbstein, die Landessprecherin der Thüringer Bündnisgrünen, Astrid Rothe-Beinlich und meine Person, auch in meiner Eigenschaft als zukünftiger Spitzenkandidat zur Thüringer Landtagswahl. Der Sprecher des Kreisverbandes Gera, Eugen Weber, moderierte die sehr intensive Debatte.

Mit meiner westdeutschen Biografie ist es schwierig, so viele Antennen zu entwickeln, die man bräuchte, um zu spüren, wie tief die Verletzungen sind, die durch Diktaturerfahrungen in der DDR ausgelöst worden sind. Phasenweise ging es in der Debatte um unsere heutige Rolle als eine der erfolgreichsten Parteien im gesamtdeutschen Parteiengefüge. Gleichzeitig stand immer wieder die Frage, wie geht die Gesamtpartei mit den Mühlsteinen im Rucksack um, die aus der SED über die PDS bis in die heutige Partei getragen werden. Mit rein sachlichen oder fachlichen Argumenten wird man das Thema nicht abhandeln können, wenn man mit authentisch Betroffenen darüber debattiert. Dies hat der Abend deutlich gezeigt.

Als Westdeutscher kann ich formal darauf hinweisen, dass von den 2,3 Millionen ehemaligen SED-Mitgliedern in der Wende sofort über 2 Millionen die Partei aus den unterschiedlichsten Gründen verlassen haben. Die, die geblieben sind, wussten, dass dies kein Karrierefahrplan ist und auch kein Signal für Anpassung oder Farbwechsel à la Chamäleon in der neuen Gesellschaftsordnung. Ganz im Gegenteil – es bedurfte schon in der Wendezeit und nach der Wende einigermaßen starker Nerven, um sich immer noch als PDSler zu outen. Da gab es eben Zeiten, in denen Infotische umgeschmissen, Flugblätter zerrissen und Flugblattverteiler bespuckt wurden. Da gab es auch Zeiten, in denen von anderen Parteien Flugblätter mit Konterfeis in Umlauf gebracht wurden und Namens- und Adresslisten von ehemaligen Hauptamtlichen des Ministeriums für Staatssicherheit verteilt wurden.

Da gibt es so seltsame Erfahrungen, dass die Personenschutzabteilung des Ministeriums für Staatssicherheit in der Regel gute Aufnahme gefunden hat in den Personenschutz der Bundesrepublik Deutschland, aber ein Mitglied meiner Bundestagsfraktion per se als Stasi-Spitzel qualifiziert wird, obwohl er derselben Personenschutzabteilung angehört hat. Der trifft dann vor dem Plenarsaal oder bei Festveranstaltungen seine ehemaligen Kollegen, die nun hochrangige Vertreter der Regierung der heutigen Bundesrepublik Deutschland bewachen. Da stelle ich dann als Westdeutscher fest, dass offenkundig die Lebenswege sehr unterschiedlich eingeschätzt werden, denn der eine darf Minister aus der Diktatur und dann aus der Demokratie bewachen, während der andere sich nicht um ein Bundestagsmandat bewerben darf, ohne Gefahr zu laufen, dass er für die gleiche Tätigkeit, die er wie sein ehemaliger Kollege ausgeübt hat, anschließend als „Spitzel“ tituliert wird. Dies alles geht mir durch den Kopf, wenn Astrid Rothe-Beinlich ausdrücklich nach den zwei Abgeordneten im Thüringer Landtag fragt, die durch eigene Verstrickung im DDR-System Berichte über andere Menschen geschrieben haben, aber nach der Wende ihre Akten auf den Tisch gelegt, ihre Verstrickung eingestanden und sich der öffentlichen Debatte gestellt haben.

Da ist es eben verwunderlich, dass Ina Leukefeld immer wieder für ihre K1-Berichte aus dem Bereich der Politischen Polizei öffentlich angezählt wird, obwohl sie auf die Menschen zugegangen ist, über die sie zu DDR-Zeiten berichtet hat, und obwohl sie immer wieder ihr Entsetzen darüber formuliert hat,  dass sie sich in dem DDR-System soweit hat hinreißen lassen. Sie hat auch immer wieder beschrieben, wie sehr sie heute noch grübelt, warum sie so an das System geglaubt hat und warum sie der Meinung war, dass das auch noch richtig sei, was sie da täte. Dieses würde sie heute umso mehr belasten. Aber als sie sich öffentlich der Debatte gestellt und alle Kritiker eingeladen hat, die Debatte öffentlich zu führen, da wurde sie von der Stasi-Unterlagenbeauftragten Hildigund Neubert angezeigt, weil sie ihre Stasi-Akte bei sich hatte und diese auch noch öffentlich gezeigt hat. Journalisten dürfen über die Landtagsabgeordnete Leukefeld aus der Akte schreiben, Journalisten dürfen diese Akte auch komplett haben, wahrscheinlich auch zeigen. Die Betroffene, die sich einer öffentlichen Debatte stellt, darf dies nicht, sondern wird anschließend angezeigt.

Die Frage, die mich an diesem Abend bewegt, ist, wie erarbeiten wir uns einen Maßstab, mit dem Verstrickung bewertet wird, und wie schaffen wir es, einen Umgang zu finden, um über den Repressionsapparat der DDR so miteinander sprechen zu können, dass wir glaubhaft sagen und deutlich machen können, dass eine Wiederholung solcher Repressionsmaßnahmen unter gar keinen politischen Vorzeichen möglich sein darf. Dies ist im Kern die Frage nach der Linken und ihrem Verhältnis zu den Bürgerrechten oder wie die Veranstaltung hieß “Vom Saulus zum Paulus?” Auf meine Frage an die Mitdiskutanten, wie dies für andere Vertreter gesellschaftlicher Verantwortung in der DDR gelten würde und ob dieser Maßstab immer nur gegenüber unserer Partei angewendet werden würde, blieben doch bei mir einige Zweifel, wenn ich auf aktuelle Personen und Persönlichkeiten der Thüringer CDU verweise. In einem Punkt überzeugten mich die im Podium vertretenen Opfer nicht, auch wenn ich intellektuell ihre Position verstehen kann. Aber per se der Linken ein Wandlungsrecht abzusprechen, kann ich nicht akzeptieren. Auf diesem Niveau werden wir uns sicherlich nicht treffen können, denn wenn der eine Gesprächspartner dem anderen Gesprächspartner die Grundsubstanz aberkennt, führt das nicht wirklich zu einem Gespräch.

Der Abend war spannend, streckenweise emotional, hilfreich, aber er zeigte trotzdem Grenzen. Die einzige Schlussfolgerung, die ich ziehen kann, heißt, heute im Laufe des Tages mit dem Büro von Luc Jochimsen zu sprechen, um ein Klärungsbegehren zur Weiterfinanzierung der Gedenkstätte Amthordurchgang auf den Weg zu bringen, und ein längeres Gespräch mit Dieter Hausold zu führen, damit der gestern begonnene Gesprächsfaden in Gera nicht abreißt. Ich bin froh, dass die Grünen den Schritt auf uns zu gemacht haben und klar war mir, dass es nicht einfach ein vergnüglicher Abend werden würde. Andererseits wollte ich auch mit meiner Anwesenheit deutlich machen, dass wir als Partei DIE LINKE in Thüringen diesen Teil der Verantwortung nicht unterschätzen dürfen. Wir müssen uns auch diesem Teil der Geschichte stellen und es bleibt für mich immer wiederkehrend die politische Frage im 40. Jahr des Prager Frühlings, wenn man über Sozialismus mit menschlichem Antlitz redet, wo würd
e man sich heute befinden in Prag? Vor dem Panzer, bei den Menschen mit den Ideen von Dubcek oder in den Schaltzentralen der Macht, die die Panzer haben rollen lassen. Diese Frage bleibt und muss für uns Kompass sein.