Geschichtsträchtiger Tag in Gera

Eigentlich hätte ich heute in der Bundestagssitzung sein müssen oder beim Vermittlungsausschuss, wo kurzfristig eine Sitzung zur Auseinandersetzung um die Wohngeldreform anberaumt wurde. Der Landesverband von Bündnis 90/ Die Grünen hatte aber schon vor Monaten eine Verabredung mit mir getroffen, heute in Gera gemeinsam und öffentlich über totalitäre Strukturen in der DDR und über die Aufarbeitung genau dieser Strukturen zu debattieren. Es war für mich zwar eine Abwägung, aber eindeutig zu Gunsten der Veranstaltung in Gera.

Der Veranstaltungszyklus teilte sich in drei unterschiedliche Termine und damit auch in drei Angebote an die Öffentlichkeit, uns zu begleiten. Um über Staatssicherheit und die Konsequenzen aus dem Wirken der Staatssicherheit mit einem ausreichenden Fundament debattieren zu können, besuchten wir die Gedenkstätte „Amthordurchgang“. In einer sehr fundierten Art führten uns die Mitarbeiter in die quälende Geschichte eines Knastes ein, der in vier Gesellschaftssystemen seinen Dienst tat. Obwohl man spürt, dass die Gesprächspartner höchst unangenehme Erfahrungen mit dem letzten Gesellschaftssystem sammeln mussten, waren die Erläuterungen zum Wesen des Gefängnisses wissenschaftlich sachlich und im notwendigen Sinne distanziert. Der didaktische Aufbau der Gedenkstätte ist aber so, dass man am Ende die Wandlung von physischer zu psychischer Gewalt erkennt. Da drängt sich die Frage auf, wie man vorgeblich einen besseren Menschen erziehen will, wenn die Drohkulisse so zerstörerisch ist. Diese Form der räumlichen, zeitlichen und persönlichen Desorientierung kann ich nur mit dem Begriff „Folter“ und zwar „Psychischer Folter“ beschreiben.

Die Perfektion dieses Knastsystem ist in der DDR erreicht wurden. Mein Bild vom demokratischen Sozialismus ist mit dieser zynischen Menschenrechtsverletzung nicht vereinbar. Es ist schön zu hören, dass viele Schülerinnen und Schüler im Rahmen von Projektunterricht mit ihren Lehrern den „Amthordurchgang“ besuchen. Kümmern müssen wir uns aber, dass die Finanzierung dieser Gedenkstättenarbeit im kommenden Jahr nicht versiegen darf.

So funktioniert Gera, gute Gespräche und kurze Drähte ermöglichen es, dass zur Finanzfrage und zur Weiterfinanzierung der Oberbürgermeister der Stadt Gera, Dr. Norbert Vornehm, den Hinweis von mir gerne aufnahm und Margit Jung im Landtag und ich im Bundestag entsprechende Nachfragen stellen werden. Gedenkstättenarbeit am authentischen Ort muss als lebendiger Erinnerungsort unterstützt werden. Ich würde mich nicht wundern, wenn in den nächsten Tagen der OB einen offiziellen Besuch im „Amthordurchgang“ machen wird.

Die zweite Veranstaltung war eine Buchlesung mit Siegfried Reiprich, stellv. Direktor der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen. Das, was er aus seinem eigenen Leben zu Gehör brachte, war die quälende Beschreibung des Scheiterns einer linken Idee. Die rundum sozialistisch gebildete Persönlichkeit sollte wohl den Teil kritische Analyse nicht beinhalten. Sehr kundig konnte er die Texte linker Theoretiker benennen, die ihn als Jugendlichen faszinierten und die man in der DDR unter Totalverbot stellte. Diesen Erfahrungen zu lauschen, heißt sich lebendig mit Totalitarismus auseinanderzusetzen. Seine wache Aufmerksamkeit auf das Versagen der westdeutschen Linken im Erkenntnisprozess zu den quälenden Strukturen in der DDR, erinnert mich noch einmal, an die für mich quälende Phase, als ich mich durch die tausend Seiten Peter Weiss „Die Ästhetik des Widerstandes“ durchzwang. Es bestärkt mich immer mehr, dass unsere Vision vom demokratischen Sozialismus nur mit Demokratie und mit allen Menschen- und Bürgerrechten geht oder gar nicht. Sozialismus, der auf geistiger Unfreiheit basiert, kann nur als Diktatur und als Totalitarismus gekennzeichnet werden.

Jetzt geht’s zur dritten Veranstaltung – einer Podiumsdiskussion. Ich bin sehr gespannt, was für ein Publikum mich dort erwartet. Mehr dazu dann im morgigen Tagebucheintrag.