Geschichte macht schlapp!

Wir werden am Hotel abgeholt von einer Stadtführerin, die sich nicht nur als wandelndes Geschichtsbuch erweist, sondern uns so ganz nebenbei auch in die aktuelle politische Situation des Landes einführt. Ein wirklich kurzer weg durchs Jaffa Tor, führt uns direkt in die Altstadt. Dann ein stundenlanger, aber nicht ermüdender Weg durch 3000 Jahre pure Geschichte! Der Weg führt durch das armenische Viertel und den Gedanken an den Genozid am armenischen Volk in den Jahren 1915 bis 1917. Im Viertel hängen überall Plakate, die an dieses Schicksal erinnern. Unsere kundige Begleiterin erläutert uns, dass auch in Israel um dieses Thema Verwicklungen entstanden, als ein Bildungsminister diesen Punkt in die Geschichtsbücher des Landes aufnehmen ließ. Es erhob sich Protest und als der Minister nicht mehr im Amt war, verschwand dieser Teil der Geschichtsbeschreibung wieder.

Die Türkei ist ein wichtiger Partner Israels, was sich beispielsweise aktuell bei den extrem wichtigen Verhandlungen mit Syrien zeigt. Aber auch ansonsten gibt es gute und hoch entwickelte wirtschaftliche Beziehungen zwischen beiden Staaten. So ist es wohl zu erklären, dass ausschließlich die türkische Auslegung der Ereignisse im Raum stehen bleibt, dass es sich um eine sehr bedauerlichen Teil des Krieges aber nicht um einen Völkermord gehandelt habe. Mir kommt das alles sehr bekannt vor, ich habe die Emotionsbeladene Debatte vor einem Jahr hautnah erlebt. Das armenische Volk hat sein großes Leid mit in die Welt hinaus genommen und keine Chance diesen Schmerz zu bearbeiten. Auch weil man hier offenkundig auf jede offene Wunde der Welt trifft. Die Via Dolorosa entlang kann man auf den jüdischen, christlichen und muslimischen Schmerz treffen.

Unsere Stadtführerin überrascht, weil Sie als gebürtige Ungarin fließend ungarisch, deutsch, hebräisch und – wie wir hören können – auch arabisch spricht. Da redet sie mit den Arabern und tauscht Freundlichkeiten aus, aber man spürt, dass das nicht nur Belanglosigkeiten sind. Sie hat nach dem Sechs-Tage-Krieg absichtlich arabisch gelernt, um den eigenen Traum vom Frieden durch eigenes Handeln zu ermöglichen. „Wie soll sich der Frieden im Großen entwickeln, wenn es keine Harmonie im Kleinen gibt“ ist ihre Devise.

Und so lernen wir auch die kleinen Nadelstiche kennen, die das Leben in Jerusalem so angespannt sein lässt. Muss man da eine Wohnung im arabischen Viertel nehmen, wenn man weiß, dass man damit provoziert? Muss man dann mitten im arabischen Teil freitags laut feiern und singen, wenn das die Nachbarn verärgert? Wir stehen auf dem Dach des österreichischen Spitals über der Via Dolorosa und hören den Muezzin, nein die Muezzine: Mittagsgebet! Dann bekommen wir die Stationen des Leidens Jesu erklärt und gezeigt. Weiter in die Grabeskirche, wo der bizarre Streit von mindestens sechs christlichen Kirchen über den Anspruch auf deren Oberhoheit, symptomatisch ist, für die Verirrung und Verwirrung darüber, wer denn nun der oberste und wahre Hüter des Glaubens sei! In der untersten Kapelle dann den Felsen von Golgota zu berühren hat wieder etwas Erhabenes. Der Fels ist stark und fest, aber der Streit, wer denn die wahre Deutungshoheit über den Glauben und welche Kirche oder Religion die einzige Kirche oder Religion ist – angesichts auch des nahen Tempelberges und der sehr greifbaren aber auch tödlichen Spannungen zwischen Juden und Muslimen – zeigt, wie brüchig eine Friedensbotschaft der heiligen Bücher ist, wenn sie durch Machtgelüste entwertet wird. Da eilen orthodoxe Juden ganz entspannt durch den arabischen Teil zur Synagoge und das christliche Viertel ist genauso lebendig, wie das jüdische. Da sind am Freitag bei den einen die Geschäfte zu und nebenan, bei den anderen, am Samstag oder an der nächsten Ecke am Sonntag. Da teilt sich jeder Glauben noch mal in mehrere Richtungen und alle zusammen beruhen doch auf Abraham bzw. den gleichen Quellen! Das Gemeinsame erkenne ich da leider eher im Trennenden. Gleichwohl eine wunderschöne Stadt mit noch mehr interessanten Menschen, Menschen die vergeben können und wissen, dass Vergebung die Grundvoraussetzung für Frieden ist.

Nach einem wunderbaren Essen bei einem freundlichen Araber geht’s dann im Auto rund um Jerusalem. Auch ein Besuch in Ost-Jerusalem, wo gerade die heftig umstrittenen Wohnungen gebaut werden und ein Blick auf die seltsam befremdliche neue Mauer quer durch die Menschen. Immer mit Erläuterungen unserer Führerin, die nicht  verletzen oder verharmlosen, sondern die erklären und die Sichtweise der arabischen Mitmenschen und Nachbarn immer mit beinhalten! Da wird mir die Hoffnung nicht vergehen, solange solche Menschen einen Traum vom Frieden leben und nicht nur träumen! Aber es wird auch sehr deutlich – angesichts der Gewehre und der greifbaren Militarisierung der ganzen Region, dass es auch eine Hoffnung und Chance ist mit der Türkei einen Partner zu haben, der Vermittler zwischen Orient und Okzident ist. Wie wichtig es doch ist, endlich mehr über Chancen zu sprechen, die mit Annäherung verbunden sind.

Nach Stunden laufen und fahren, bin ich schlapp und müde aber glücklich. Schon wieder einen tollen Menschen kennengelernt. Wie kann man nach dem Holocaust so freundlich sein? Nur mit Vergebung und nicht mit Vergessen.