Es gibt mehr als einen Weg jüdisch zu sein
Auch der heutige Tag steckte voller Ereignisse, aber auch überraschenden Wiedersehen. So traf ich Prof. Paul Liptz wieder, den ich Anfang des Jahres, zusammen mit Vertretern der Führung der Union for Reform Judaism U.S.A. (URJ), in Berlin empfangen hatte. Ihn traf ich im Garten des Hotel, wo er sich mit kanadischen Jüdinnen und Juden unterhalten hatte. Ebenso kam es zu einem überraschenden Wiedersehen mit Monsignore Norbert Hofman, zuständig für religiösen Dialog beim Vatikan. Wir kannten uns vom Besuch der kirchen- bzw. religionspolitischen SprecherInnen der Fraktionen im Vatikan. Er kam strahlend auf mich zu und wir führten am Rande der Konferenz ein intensives und spannendes Gespräch über soziale Gerechtigkeit und das Auseinanderbrechen der europäischen Gesellschaften in Ultra-Reiche und Ultra-Arme. Sehr schnell waren wir uns einig, dass die Fundamente der Gesellschaft gestärkt werden müssen und dass dabei Begriffe wie Solidarität und Gerechtigkeit wichtige Elemente sind. Darüber kamen wir zu einer Überlegung von Gregor Gysi über die Bedeutung und die Glaubwürdigkeit von Religion und Glauben in einer Welt, in der die Idee des Sozialismus großen Schaden genommen – aber auch angerichtet hat. Trotzdem kann ich von meiner Vision eines demokratischen Sozialismus einfach nicht ablassen. Gemeinsam verabreden wir, dass wir eine Audienz im Vatikan für Gregor Gysi arrangieren sollten und werden.
Ein interessantes Thema der heutigen Konferenz war u. a. die mediale Berichterstattung zum Nahost-Konflikt. Neben einem Vertreter des Projektes IPCRI, welches sich für den Dialog zwischen Israelis und Palästinensern einsetzt, nahm ebenso ein Journalist der Haaretz sowie des Religous News Service teil. Das Spannungsverhältnis westlicher Demokratie-Standards und der religiösen Verbindung des israelischen Standards war ebenso Bestandteil der konstruktiven Diskussion, wie der illegale Siedlungsbau oder auch die Gründe für das Erstarken der Hamas. Einigkeit bestand bei allen darin, dass es wichtig ist, eine säkulare, aufgeklärte Berichterstattung neben einer professionellen auch religionskundlich fundamentierten zu fördern. Ebenso die Hamas nicht weiter zu ignorieren, sondern sich mit ihr auseinanderzusetzen.
Am Nachmittag kam es dann zu einer sehr interessanten Begegnung mit Frau Anat Hofman, Direktorin des Israel Religion Action Center (IRAC). Bei IRAC handelt es sich um den menschenrechtlichen und damit politischen Arm der Welt Union Progressiver Juden (WUPJ). Diese setzt sich sehr für die BürgerInnenrechte und darüber hinaus für gleiche Rechte aller Bürger in Israel ein. Hofman betonte das IRAC jede Woche eine Petition bei einem israelischen Gericht einreicht. Diese Woche ging es um die Durchführung des Gay-Pride am Donnerstag in Jerusalem. IRAC versucht hierbei vor Gericht durchzusetzen, dass diese stattfinden kann. IRAC sieht sich dabei in einer wichtigen Rolle, denn, so Hofman, es sei sehr wichtig, dass die Unterstützung für die Gay-Communitiy auch von einer religiösen Institution kommt, ebenso wie von der Opposition. Das Motto der Veranstaltung, das mir gut gefällt, lautet: „Es gibt mehr als einen Weg jüdisch zu sein.“
Dieses Motto sei wirklich revolutionär, so Frau Hofman. Es war das Leitgeschehen in Deutschland vor dem Holocaust und wurde in den Gaskammern mit ermordet. Nun müssen sich die Juden es wieder hart erarbeiten und hier in Israel zäh erkämpfen. Da gehen mir ganze Kronleuchter auf. Welche Rückendeckung hier in Israel dieser Kampf um ganz normale Bürgerrechte hat, gerade durch die liberalen, progressiven Juden aus den USA.
Gleich im Anschluss traf ich den Präsidenten der Weltunion Progressiver Juden (WUPJ), Rabbiner Uri Regev. Ein wirklich sehr charismatischer Mann mit einer unglaublich positiven Ausstrahlung. Die WUPJ besteht in über 44 Ländern und beherbergt die größte Anzahl an religiös gebundenen Juden weltweit. Rabbiner Regev betonte, wie wichtig die Werte der Bibel für die Arbeit der WUPJ sind. Denn als Gott Abraham als die Quelle des Segens “auserwählte”, schaffte er diese Quelle für die gesamte Menschheit. Sich im täglichen Leben für Gerechtigkeit einzusetzen, ist daher Aufgabe aller abrahamitischen Religionen. Sich stattdessen aus einem Baukasten das rauszusuchen, was man für richtig hält, um dann damit seine eigene Zielen rücksichtslos durchzusetzen kann niemals Lösung der vielen bestehenden Konflikte sein. Dabei ist die Allianz zwischen den Religionen auf Basis gemeinsamer Werte, nicht der richtige Weg um zu einer Konfliktlösung konstruktiv beizutragen?
Den krönenden Abschluss bildet ein unaussprechlich gutes Abendessen bei Hess! „Hess dick im Rennen“ war eine Schlagzeile in der Schweizerboulevardzeitung Blick. Es meinte den Schweizer Metzger und Gastronom Hess, der im Baseler Stadtrat 8 Jahre als Abgeordneter saß. Heute ist er ein Jerusalemer Geheimtipp für koschere Bratwurst. Da schlage ich als Thüringer zu und bin begeistert. Mit Lammfleisch oder Kalb, mit oder ohne Kümmel! Ich bin schon satt, bevor der noch bessere Hauptgang kommt. Da Herr Hess wissen willm was ich so mache und für wen, kommen wir ins Bratwurst-Fachsimpeln. Er erklärt mit großem Stolz für die Baseler Fleicherinnung (älteste Innung der Welt) der einzige Außenrepräsentant zu sein. Ich schwärme, dass man in Erfurt eine koschere Außenstelle vom Jerusalem Hess eröffnen sollte. Der Thüringer Bratwursthimmel hätte eine echte Bereicherung!
Der Abend vergeht wie im Flug mit vielen Gesprächen mit den Studenten vom Abraham Geiger Kolleg, die alle mindestens ein Jahr hier in Jerusalem auf Ihre Rabbi-Ordinierung vorbereitet werden. Das werden alles deutsche Rabbis denke ich und spüre, dass es mich mit Stolz erfüllt, das erleben zu dürfen. Deutschland bekommt einen wichtigen Teil seiner Kultur wieder und progressive Juden gehören zu einer wahren Bereicherung auch in der inner-israelichen Entwicklung! Wenn Fundamentalisten sich zusammentun und eine offene Welt bekämpfen, wenn Steine gegen Lesben und Schwule fliegen, wenn palästinensische Schwule sich nach Israel retten müssen und trotzdem muslimische mit jüdischen Orthodoxen gemeinsam Steine gegen die Gay Pride werfen, wenn Frauen unter Polizeischutz gestellt werden müssen, weil sie singend ihrem Gott Ehre erweisen wollen, dann ist der Satz wirklich revolutionär, dass es viele Wege gibt ein Jude zu sein! So gesehen: Lasst uns durch die Brille des anderen schauen, um Lösungen zu erkennen!