„Kämpfer“ für den Tempel

Ein Schrecken besonderer Art ereilt uns heute: sprachlos beobachten wir eine seltsame und auf uns makaber wirkende Prozession von jüdischen Kindern. Wir schätzen es müssen wohl Zweitklässler sein, die da unter lautem Singen und Rufen zur für Juden heiligen Westmauer ziehen. Erst hatten wir die in Zweier-Reihen aufgestellten Kinder im jüdischen Viertel der Altstadt getroffen, wo sie sich für den demonstrativen Marsch aufstellten. Da wir die Hebräischen Schilder nicht deuten konnten, dachten wir, es wäre ein lustiger und kostümierter Ausflug der Schule zum Klassenabschluss – lächelnde Kinder, fröhlich und unschuldig. Dann unser Schock und Entsetzen, als uns unser sehr kundiger israelischer Guide (hat in Köln Kath. Theologie studiert und versteht sich selber als säkularer Israeli) erklärt, dass er sie für Fanatiker halte. Wir fragen nach: FANATIKER? Ja, diese jüdischen Gläubigen wollen den dritten Tempel erbauen und somit den Felsendom und die al-Aqsa-Moschee vernichten!

Die Kinder werden für diese Provokation missbraucht, empfinde ich. Unser Stadtführer sagt, dass an dieser Stelle vor und am Tempelberg ständig der Wahnsinn zuschlagen könnte. Man müsste immer wachsam sein, denn die Fundamentalisten aller Seiten wären wohl jederzeit bereit die Büchse der Pandora an diesem Ort zu öffnen. Wir reden lange darüber und ich verstehe es besser, als er sagt, dass der Status Quo in Jerusalem wohl das Beste sei, was derzeit zu haben wäre! Angesichts der fröhlichen Kinderaugen und dem Abgrund, an den Sie geführt werden, verstärkt sich mein ablehnendes Misstrauen gegen Fanatiker und Fundamentalisten.

Aber ich treffe auch wieder auf Gesprächspartner, die meinen Optimismus beflügeln. Da begegne ich in der Knesset einem israelischen Abgeordneten arabischer Herkunft und der sagt: die Friedensbewegung von zu Israel stärken, müsse  die Devise sein. Ein erstaunlicher Mandatsträger, der Mohammad Barakeh von der Democratic Front For Peace And Equality, unserer Partnerpartei in Israel. Ich frage auch danach, was wir in oder aus Deutschland tun sollten. Er antwortet, um  klären zu können, mit wem unsere Partei über Friedensfragen reden kann – ob sogar mit der Hamas oder der PLO – sollten wir dies mit Machmut Abbas, also dem Palästinensischen Präsident besprechen. Er möchte uns da keinen Rat geben oder gar Vorschriften machen. Er erklärt, dass seine Partei steht der Hamas inhaltlich ablehnend gegenüber steht und es trotzdem für falsch halte, dass nach der Wahl der Hamas die Gelder der EU sofort gestrichen wurden. Das waren die völlig falschen Signale an die Zivilbevölkerung im Gaza, so schürt man erst richtig Feindschaften und schafft eine falsche Reputation für die Hamas. Es bewirkt also das Gegenteil vom gewünschten Ziel! Mit Arabern, Muslimen muss der Weg zusammen gegangen werden, sagt er, aber die Zivilbevölkerung muss wieder aktiver eingreifen. Deshalb muss die israelische Friedensbewegung erstarken.

Der Höhepunkt der Reise am heutigen Tag war aber zweifach spannend. Ich sitze in der Knesset und verfolge gespannt das Misstrauensvotum gegen Premierminister Olmert. Er spricht ruhig und erläutert seine Sicht. Dann der Oppositionsvertreter, der scharfe Attacken reitet. Es erhebt sich ein Geschrei unglaublicher Art, vorherige Mitstreiter des Oppositionsführers schreien, gerade er solle doch still sein, seine Taschen wären wohl voll und ähnliches. Es geht drunter und drüber. Der amtierende Parlamentspräsident hat seine Last, rudert, wird laut, überschreit und ich wundere mich, dass es nicht handgreiflich wird. Aber dann geht es ganz schnell: elektronisch, mit großer Wandanzeige, innerhalb von 10 Sekunden abgestimmt und fertig; 44 für und 34 gegen Olmert. Schluss, basta und Ruhe!

Am Rande erfahre ich, dass die Regierung Olmert wegen der Friedensgespräche eine Schonfrist bekommen habe, aber falls es eine Anklage wegen Bestechlichkeit vor dem zuständigen Gericht gäbe, dann wäre zumindest Olmert  nicht mehr als Premierminister zu halten.

Ein weiterer Lebenskreis von mir schließt sich wenige Minuten später, noch in der Knesset. Wir sind verabredet mit Isaac Herzog, Minister für Soziales und die Menschen in der Diaspora. Sein Vater war nicht nur israelischer Staatspräsident, sondern auch der englische Kommandeur in Bremen und Braunschweig nach dem zweiten Weltkrieg. Die von ihm kommandierten Truppen haben Bergen-Belsen befreit. Mein gerade verstorbener Freund Andrja Bubalo aus Split wurde von diesen Truppen in Bergen-Belsen befreit. Er war im KZ Dora Häftling und wurde noch auf den Todesmarsch geschickt, nur durch Zufall kam er in Bergen-Belsen lebend an. Dort wurde er vom Vater Herzog und den englischen Truppen befreit. Jetzt sitze ich bei seinem Sohn und er fragt mich vieles über unsere Partei. Aber er gibt mir auch Einblicke in die Sichtweise der Regierung: Keine fröhliche Verharmlosung der Mauer rund um Jerusalem, sondern die Einsicht, dass dieses ungeliebte Bauwerk lieber heute als morgen verschwinden muss. Doch setzt es den Willen zum friedlichen Zusammenleben auf beiden Seiten voraus. Wie wahr und wie kompliziert!

Er muss los zur Abstimmung. Ich bin ja in der Plenarzeit bei Ihm und kenne diese Zwänge gut. Trotzdem verblüfft er mich mit einer in Frageform verpackten Behauptung, die mich grübelnd zurücklässt: „Seid ihr nicht in Deutschland mit der neuen Partei – an sozialen Zielen gemessen – eigentlich die alte Sozialdemokratie?“ Ich denke im Sinne von  Willy Brandt, mehr Demokratie wagen, statt mit den Taten von Gerhard Schröder, mehr Volkswagen! Basta, wie der Herr zu sagen beliebte, als er Hartz IV einführte, mit dem dann aber für Arbeitslose nur noch weniger Volkswagen möglich war.