Nichts Neues aus der Anstalt

Ich muss mich doch schon wieder zu Wort melden, denn ein Thema, das mich sehr bewegt, ist die laufende Debatte um den Jugendmedienschutz-Staatsvertrag (JMSTV). Natürlich ist die Frage nach Kinder- und Jugendschutz richtig. Aber der Lösungsansatz geht in die falsche Richtung!

Aus guten Gründen habe ich bei der Abstimmung im Thüringer Landtag mit nein gestimmt. Nur leider ist es bei Staatsverträgen nicht so einfach. Die Parlamente sind da zu reinen Statisten verkommen. Ich habe das mehrfach öffentlich beklagt, zuletzt beim Mitteldeutschen Medientreff, als um die Rundfunkgebühren ging. Da wird Hinterzimmerpolitik gemacht und das ist nicht mehr akzeptabel.

Es ist aber auch nicht in Ordnung, wenn jetzt unserer Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus die Schuld an diesem Dilemma in die Schuhe geschoben werden soll. Das ist zu billig! Vierzehn Landesregierungen vorher hätten schon mit einem Sturm der Entrüstung überzogen werden müssen. Da reicht ein nächtliches Twittergewitter nun wahrlich nicht aus. Konkret hätte Kurt Beck von der SPD angeschrieben werden müssen. Der hatte die Federführung und nicht Die Linke in Berlin oder sonst wo.

Die Netzgemeinde sollte wenigstens wissen, wann und an welcher Stelle der Protest angebracht ist und der Druck eine Wirkung entfalten kann. Die Lobbyisten wissen es leider genau, die Blogger und Twitterer sollten es aber auch können – also weiter Druck machen und den Vertrag von innen heraus verunmöglichen, das ist immer noch aktuell!

Ich bleibe bei meinem Nein, bin aber kein Held mit Superkräften und habe damit leider im Thüringer Landtag nichts bewegen können. Wenn wir etwas verändern wollen, dann müssen wir erst das Zustandekommen der Staatsverträge endlich auf demokratische Füße stellen. So kompliziert, dass man den ersten Schritt vor dem zweiten gehen muss, ist Politik nun einmal. Deshalb bleibe ich auch solidarisch mit meinen Berliner Genossinnen und Genossen und verweise auf den sehr differenzierten Text von Halina Wawzyniak, den ich freundlicherweise hier veröffentlichen darf, der aber auch in ihrem sehr empfehlenswerten Blog nachlesbar ist:

Worüber im Zusammenhang mit dem JMStV noch zu reden gewesen wäre

Nun ist es also passiert. Der Jugendmedienschutzstaatsvertrag ist in Berlin ratifiziert worden. Mit den Stimmen der LINKEN.  Die Netz-Community tobt, nicht ganz zu Unrecht. Was ich hier lese, tut auch irgendwie weh.  Der JMStV ist eine Zumutung, der JMStV ist Internetzensur durch die Hintertür unter dem Deckmantel des Jugendschutzes. Der JMStV ist kaum händelbar und eigentlich wünsche ich mir, dass alle Zustimmer/innen konkrete mit den Folgen konfrontiert werden.

Doch halt. Reden wir über mehr als über die Zustimmung. Reden wir über mehr.

Was ist passiert? Der JMStV wurde von den Minipräs (wie ich gern zu den Ministerpräsidenten sage) ausgehandelt, Federführung Kurt Beck (SPD).  Am Parlament vorbei, denn zumindest in Berlin gibt es kein Parlamentsbeteiligungsgesetz bei Staatsverträgen.  Problem 1 also: Das Parlament gibt Kontrollrechte ab an eine einzelne Person und kann dann zum Ergebnis nur noch ja oder nein sagen. Hier besteht Veränderungsbedarf. Interessanterweise geht die Zustimmung und Ablehnung in den Parlamenten quer durch alle Parteien. Die Grünen haben -als Oppositionspartei- in Thüringen zugestimmt, DIE LINKE nicht nur in Berlin sondern auch in Bremen. Die CDU, die auch den einen oder anderen Minipräs stellt, hat in vielen Ländern zugestimmt, in Berlin dagegen. Vermutlich aus rein inhaltlichen Gründen.

Problem 2 also: Netzpolitik spielt in allen im Bundestag vertretenen Parteien nicht wirklich eine Rolle. Das Thema wird fröhlich als Sparten- oder Nischenthema behandelt. Auch in der LINKEN ist es so. Hier streiten wir uns immer noch, ob wir in einer Industriegesellschaft leben oder vielleicht doch nicht mehr. Hier wird das Thema Netz allenfalls von ein paar wenigen behandelt, es hat nicht wirklich die Partei ergriffen. Hat es den/die Bürger/innen ergriffen? Auch hier ist mein Eindruck, dass Netzpolitik am Rande behandelt wird und nicht wirklich -seiner Bedeutung angemessen- ein die Bürger/innen bewegendes Thema ist. Hier gilt es Sensibilität zu schaffen.

Nachdem ohne großes öffentliches Interesse eine Ratifizierung des JMStV in einigen Bundesländern erfolgte (so in Thüringen, im damals noch schwarz-grün regierten Hamburg, im rot-grün regierten Bremen) wachte die Mehrzahl der Netz-Community auf (ja einige waren schon vorher aktiv, aber wir alle haben es verpasst rechtzeitig konkreten Druck auf konkret handelnde Akteure aufzubauen).  Der Druck auf NRW und Berlin wurde erhöht und zeigte durchaus Wirkung. Offene Briefe von Netzaktivisten an die Regierungsabgeordneten in NRW und Berlin wurden geschrieben, die LINKE in Berlin die bereits eine Zustimmung beschlossen hatte, erklärte am 1. Dezember, dass sie von einer Ratifizierung sofort Abstand nehmen würde, wenn die SPD oder Wowereit ihre Position ändern. Die SPD geriet unter Druck, aber sie blieb -bedauerlicherweise- auf ihrer Position.  Und schon sind wir bei Problem 2 und 3: Der Druck kam etwas spät, er hätte deutlich früher aufgebaut werden müssen. Das scheint mir am schnellsten behebbar zu sein. Der schwierigste Punkt scheint mir Problem 3 zu sein.

Problem 3 heißt Koalitionsvertrag. Problem 3 heißt: wie funktioniert Politik derzeit. Es gab viel Hohn und Spott ob der Haltung der LINKEN in Berlin. Aus der Logik der Kritisierenden auch völlig berechtigt. Es wird viel von “Position verraten” geschrieben, das sei “rückgratlos” oder “Weicheierei” wie mir geschrieben wurde. Schließlich gehe es um den JMStV. Ich kann diese Position verstehen. Etwas Wahres hat sie an sich, aber ist es die volle Wahrheit? Was ist Wahrheit?  Dennoch will ich an dieser Stelle der Position “rückgratlos” und “Weicheierei” etwas entgegensetzen.  Nicht um zu rechtfertigen -ich selbst sitze ja gar nicht im Abgeordnetenhaus und musste auch gar nicht abstimmen- sondern um Wege aus dem Problem 3 zu finden. Ob das gelingt müssen andere beurteilen.

Ich war die vergangenen zwei Tage nicht in Berlin, mein Wissenstand bezieht sich -bis auf öffentlich zugängliche Materialien- also auf Debatten in den vergangenen zwei Wochen.  Die LINKE hat 9 Tage vor der Abstimmung den Ball der SPD zugespielt. Sie hatte es in der Hand die Ratifizierung zu verhindern. Ein Signal und Rot-Rot hätte mit seiner Parlamentarischen Mehrheit die Ratifizierung gestoppt. Die SPD hat dieses Signal nicht ausgesendet, sie hat sich als wenig Druckanfällig erwiesen. Hätte nunmehr die LINKE dagegen gestimmt, wäre der JMStV dennoch ratifiziert worden – so dachte ich bis Montag, als mich die Nachricht erreichte, die CDU würde auch gegen den JMStV stimmen.  Dennoch wurde der Ball nicht zurückgeholt sondern verblieb bei der SPD. Nach meinem Kenntnisstand hat sich in der dortigen Fraktion eine Mehrheit für den JMStV ausgesprochen (by the way: die Mehrheit der Koalitionsabgeordneten in Berlin lehnte damit den JMStV ab). Das Signal aus der SPD war dann aber, sie würde geschlossen für den JMStV stimmen.  DIE LINKE, so der Vorschlag im Netz, sollte trotzdem gegen den JMStV stimmen.  Auf den ersten Blick nachvollziehbar, denn schließlich findet sie selbigen ja nach eigenem Bekunden auch bes*****.  Und nun kommen wir zum eigentlichen Problem 3. Zum Problem wie Politik in Koalitionen, mit verschiedenen Partnern und unterschiedlichen Interessen funktioniert.   Stimmt die LINKE gegen den Koalitionspartner ist selbiger natürlich in der Situation bei anderen Projekten auch gegen DIE LINKE zu stimmen. Jetzt beginnt ein Prozess der Abwägung. Es mag Leute geben, die einen solchen Prozess schon für verwerflich halten, ich nicht. Es mag Leute geben, die würden in einem Abwägungsprozess zu anderen Ergebnissen kommen, akzeptiert.  Zunächst wäre die Abwägung zu treffen, ob das Thema JMStV an sich es wert ist, den Koalitionsvertrag zu brechen. Da würde meine Antwort lauten: Ja, der Eingriff in die Freiheit des Internets ist so zentral, dass ein solcher Bruch berechtigt wäre.  Doch dann kommt eine weitere Abwägung, nämlich die was durch einen Bruch erreicht werden würde und was die Folgen wären. Und jetzt kommen wir zu dem Teil der Politik, der häufig als “dreckig” bezeichnet wird, als der Teil der zu Politikverdrossenheit führt. Vielleicht sogar zu Recht. Wird an der Stelle JMStV der Koalitionsvertrag gebrochen, wäre die SPD natürlich frei ein anderes Projekt zu verhindern. Und ich habe sogar eine Ahnung (beweisen kann ich es nicht)  welches es gewesen wäre. Auf der Tagesordnung des Abgeordnetenhauses stand gestern das Partizipations- und Integrationsgesetz. Das bundesweit erste Gesetz -(mit)erarbeitet und gefordert vom Landesbeirat für Migration und Integration- welches verbindliche die Teihalbe von Integrationsbeauftragten und Integrationsausschüssen ebenso festlegt wie die interkulturelle Öffnung der Verwaltund und der öffentlichen Unternehmen. Im Rat der Bürgermeister (welcher beratend tätig ist) fiel das Gesetz durch – auch weil Bürgermeister der SPD dagegen waren. Die Grünen haben sich bei diesem Gesetz enthalten. Es stehen als zwei  aus meiner (und linker?) Sicht gleichwertige Projekte gegenüber. Einmal kann ich eines verhindern, das andere mal kann ich etwas durchsetzen. Was tun? Mag jemand sagen, es ist die Wahl zwischen Pest und Cholera. Stimmt. Doch, so ist das Leben. Die Abgeordneten müssen sich entscheiden. Auch wenn ich es nicht “prima” finde, ich kann die Abwägung verstehen. Doch diese “Spielregeln” zu verändern wäre eine spannende Aufgabe, eine Aufgabe für die ich noch keine Lösung habe.

Ja, es handelt sich vermutlich (ich kann wie gesagt meine Annahme nicht beweisen) um ein Koppelgeschäft. Koalition bedeutet heute, dass jede/r von seinen Positionen etwas abrücken muss, schließlich koalieren ja immer konkurrierende Parteien, mit unterschiedlichen Interessen. Über diese Koppelgeschäfte redet nur so gut wie keine/r und das finde ich schlichtweg falsch. Jede/r kann sich selbst ein Urteil bilden, ob er/sie die Abwägung falsch findet oder nicht. Aber diese Abwägung öffentlich zu machen, dass war mir wichtig.

Vielleicht noch ein letztes: die Wähler/innen einer Partei sind nicht eine Einheitssoße. Es gibt auch unter ihnen unterschiedliche Interessen. Die einen wollen dies, die anderen wollen das.  Wer so tut, als gäbe es den ideellen Gesamtwähler liegt meines Erachtens falsch. Wer wirklich wissen will, was Bürger/innen denken, der muss ihnen die direkte Möglichkeit der Einflussnahme geben, statt sie lediglich alle paar Jahre wählen zu lassen.