Tagebuch

Warm war es gestern Nachmittag im Jenaer Astoria-Saal der Friedrich-Schiller-Universität. Und das dürfte noch untertrieben sein. Aber die etwa 200 Zuhörerinnen und Zuhörer haben tapfer meiner „Jenaer Rede“ zugehört, auch wenn schon längst alle Absolventenpreise verliehen waren. Es ist schon ein seltsamer Zufall. Vor 6 Jahren hielt meine Vorgängerin Christine Lieberknecht auch eine „Jenaer Rede“. Sie stand unter dem Titel „Thüringen 2020“ und umriss eine Reihe von Reformpfaden, um Thüringen zukunftsfest zu gestalten. Einer dieser Reformpfade betraf die Thüringer Verwaltungsstrukturen, deren Reformbedürftigkeit schon vor 6 Jahren erkannt war.
Gestern, genau am Tag meiner „Jenaer Rede“ wurde nun das Vorschaltgesetz der Gebietsreform verabschiedet. Die rot-rot-grüne Regierung hat mit ihrer knappen Mehrheit ein Reformprojekt auf den Weg gebracht, an dem die schwarz-rote Koalition mit ihrer viel klareren Mehrheit scheiterte. Und das ist nicht die einzige Großreform, die wir auf den Weg gebracht haben. Kulturminister Benjamin Hoff hat mit seiner Theaterreform etwas deutschlandweit einzigartiges vollbracht: gestaltende Kulturpolitik für die Zukunft, die gänzlich ohne den Rotstift auskommt. Ein Meisterstück. Chapeau!
Meine „Jenaer Rede“ hatte eigentlich zwei Teile. Den ersten habe ich am Vormittag im Landtag abgeliefert, wo ich zur Funktional-, Verwaltungs- und Gebietsreform gesprochen habe (dazu hat Herr Mohring einen etwas seltsamen Faktencheck abgeliefert, der mehr über ihn selbst sagt, als über die Fakten). Ich habe meine „Jenaer Rede“ unter den Titel „Vom Zuwanderungsland zur sozialen Einwanderungsgesellschaft“ gestellt und versucht, darzulegen, wo Thüringen hinsichtlich der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung steht, und welchem Leitbild eine Landespolitik mit reformerischem Gestaltungsanspruch folgen sollte. Aber lest selbst. Ich dokumentiere am Ende dieses Tagebucheintrags den vollständigen Text meiner Rede. Wer sie sich ansehen will, kann das hier tun.
Heute früh wurde ich wie wir alle von der Nachricht geweckt, dass die Britinnen und Briten sich mehrheitlich für ein Ausscheiden ihres Landes aus der Europäischen Union entschieden haben. Als Ministerpräsident habe ich dazu das Nötige gesagt. Der nun wohl bevorstehende Austritt Großbritanniens aus der EU bewegt mich aber auch persönlich sehr. Wir Nachkriegskinder sind damit aufgewachsen, dass das geeinte Europa Teil jener Zukunft ist, in der es friedlicher, sozialer und gerechter zugehen sollte. Mit Blick auf die Lage in vielen Mitgliedsstaaten der EU müssen wir feststellen, dass die Europäische Union genau diesen aus einer historischen Erfahrung erwachsenen Vertrauensvorschuss verspielt hat.  Und zwar nicht durch schwierige Umstände oder äußere Krisen, sondern einfach durch schlechte Politik. Das ist bitter. Denn es heißt auch, dass sich die demokratisch gesinnte politische Klasse in Europa die Frage nach der eigenen Verantwortung für die größte Krise des europäischen Integrationsprozesses seit seinem Beginn stellen muss. Es gibt in Großbritannien keine Mehrheit, die nationalistischen Träumen von gestern nachhängt und ernsthaft glaubt, nun kämen die guten alten Zeiten von Queen und Empire wieder. Aber es gibt ganz offenkundig eine Mehrheit, die die EU als anonymes Bürokratiemonster wahrnimmt, dass ohne ausreichende demokratische Legitimation in viele Lebensbereiche eingreifen will und im Übrigen vor allem dadurch auffällt, dass Löhne, Renten, Sozialleistungen und öffentliche Investitionen im Namen einer vorgestrigen Austeritätsideologie ständig für zu hoch erklärt werden, während Banken und Konzerne stets mit Samthandschuhen angefasst werden. Diese Mehrheit hat aber nun Rechtspopulisten in ganz Europa in eine Offensive gebracht, die wir um jeden Preis stoppen müssen. Europa muss sich ändern, die EU muss sich ändern. Sie muss sozialer, demokratischer und gerechter werden, oder sie gerät tatsächlich in existenzielle Gefahr.
Ich jedenfalls bin nicht bereit, von der Idee der europäischen Einigung Abschied zu nehmen. Jeder Angriff ermutigt mich, ihm und seinesgleichen Widerstand zu leisten. Europa hat die Rezepte der Nationalisten schon zur Genüge ausprobiert. Mit Folgen, an die man nicht oft genug erinnern kann. Vor 100 Jahren begann das Trommelfeuer der Schlacht an der Somme, der mörderischsten des I. Weltkriegs. Eine halbe Million Briten wurde getötet oder verwundet, etwa ebenso viele Deutsche und rund 200.000 Franzosen. Die Kreuze der Soldatenfriedhöfe reichen bis zum Horizont. Die Bauern an der Somme pflügen noch heute alte Granaten aus dem Boden. Nein, Herr Wilders, Frau Petry, Herr Farage, Frau Le Pen, das ist nicht Euer Europa. Wir werden es Euch nicht überlassen und den Rücken gerade machen, wenn der Wind weht.

 
Dokumentation:

VOM ZUWANDERUNGSLAND ZUR SOZIALEN EINWANDERUNGSGESELLSCHAFT – „JENAER REDE“ VON BODO RAMELOW ANLÄSSLICH DES TAGS DER POLITIKWISSENSCHAFT, 23.6.2016

Sehr geehrter Herr Rosenthal,
Sehr geehrter Herr Oppelland,
Liebe Absolventinnen und Absolventen,
Liebe Studierende,
Liebe Gäste,
Der Moment, in dem man am Ende einer langen Ausbildung ein Zeugnis ausgehändigt bekommt, womöglich ein brillantes Zeugnis wie einige hier im Raum, ist einer, den man im Leben nicht so schnell vergisst. Ich gratuliere Ihnen herzlich zum Abschluss Ihres Studiums. Ich wünsche Ihnen für den weiteren Weg die beruflichen Erfolge, die Sie sich erhoffen, und die private Erfüllung, die zu einem gelungenen Leben gehört. Vernachlässigen Sie letzteres nicht, diesen Rat gestatten Sie mir bitte an diesem Tag. „Strebe nach Ruhe, aber durch das Gleichgewicht, nicht durch den Stillstand deiner Tätigkeit“, sagte einst Friedrich Schiller, dessen großen Namen diese Universität trägt.
Ich bin sehr froh, dass ich heute die Gelegenheit bekomme, zu Ihnen zu sprechen. Schließlich gilt auch für das, was bei solchen Gelegenheiten gesagt wird, dass es Gedächtnis haften bleibt, wenn es Gehalt hat. Um letzteres werde ich mich bemühen.
Am Tag, an dem Ihre nächste Etappe beginnt, möchte ich auch über die Zukunft von Thüringen sprechen.
Ich gehe deshalb heute in einer guten halben Stunde zwei Fragen nach. Zum einen der Frage, ob Deutschland ein Einwanderungsland, ob Thüringen ein Zuwanderungsland ist. Warum ich diese Frage bejahe, und worin ich die großen Chancen dieses Befundes sehe, ist Thema des ersten Teils meiner Rede.
Im zweiten Teil werde ich erörtern, welchen positiven Veränderungsdruck dieser Befund für Europa, für Deutschland, für Thüringen entfaltet. Meine These lautet, dass die Zuwanderung von Menschen, egal ob sie als Flüchtlinge oder als Arbeitsmigranten kommen, letztlich als Katalysator für die Durchsetzung eines neuen Leitbilds der sozialen und ökonomischen Entwicklung unseres Landes wirken kann. Aber nur wenn wir diese Herausforderung als politischen Gestaltungsraum, und nicht als bestenfalls temporär zu duldendes Übel begreifen. Ich beschreibe dieses Leitbild mit dem Begriff einer sozialen Einwanderungsgesellschaft.
Wir sind, und damit beende ich meine einführenden Bemerkungen, alle miteinander aufgerufen, einen Ausweg aus den allzu einfachen Polarisierungen der gegenwärtigen Debatte zu finden. Es ist nicht so, dass wir nur die Alternative haben zwischen offenen Grenzen für alle und einem abgeschotteten Land, in dem die Skrupellosen – die Ängstlichen regieren.
Gestaltende Politik, die das Land nach vorn verändern will, wird im Dialog mit der Gesellschaft einen dritten Weg entwickeln und beschreiten müssen, ebenjenen vom Zuwanderungsland in eine soziale Einwanderungsgesellschaft. Das ist die wirkliche Richtungsentscheidung, die wir in Thüringen miteinander treffen müssen.
I) Ist Deutschland ein Einwanderungsland? Ist Thüringen ein Zuwanderungsland?
Diese Frage ist natürlich rhetorisch und nicht erst mit Blick auf die jüngere Geschichte mit „Ja“ zu beantworten. Die aufgeregte öffentliche Debatte über die deutsche und europäische Flüchtlingspolitik lässt uns gelegentlich die historischen Dimensionen übersehen. Der Blick zurück verpflichtet uns zunächst zu ein wenig mehr Gelassenheit.
Thüringen liegt als Region in der Mitte Europas. Da lag es schon vor Jahrhunderten. Hier kreuzten und kreuzen sich Handels- und Reisewege, die das Land wohlhabend machten und auch heute wieder Katalysatoren für die regionale wirtschaftliche Entwicklung sind. Die geografische Mittellage führte dazu, dass Thüringen immer wieder auch Fluchthafen und Zielort für Migration war. Dem verdanken wir große Köpfe, die unsere Geschichte prägten:
– Die Heilige Elisabeth, eine ungarische Adlige wurde zur Deutschen Heiligen;
– Die Heilige Radegunde, eine Thüringer Adlige wurde zur Französischen Heiligen;
– Auch Martin Luther kam als Religionsflüchtling nach Eisenach und schrieb als solcher inkognito auf der Wartburg seine Bibelübersetzung;
– Veit Bach, der Stammvater aller Bachs, auf die wir in Thüringen so stolz sind, er kam als ungarischer Glaubensflüchtling;
– Friedrich Schiller kam 1782 ebenfalls als politischer Flüchtling zu seinem ersten Aufenthalt ins Thüringische Bauerbach;
– Und Johann Wolfgang Goethe kam zwar nicht als Flüchtling, aber doch als Zuwanderer an den Weimarer Hof.
Diese Liste ließe sich ohne weiteres fortsetzen. Es sind diese Köpfe, über die sich Abiturienten heute in Wikipedia-Artikeln informieren, es sind diese Namen und nicht so sehr die Namen von Fürsten und Königen, mit denen wir werben, als gebe es nichts Thüringerisches. Und wer weiß, wer aus unserer heutigen Zeit später einmal in den Geschichtsbüchern landet.
Aber wir müssen noch nicht einmal den Blick in die Geschichtsbücher werfen. Wer durch die Dörfer der Orlasenke fährt, sieht angestammtes protestantisches Kernland. Stolze evangelische Kirchen schmücken die Städte und Dörfer. Aber oft genug stehen an den Rändern der Dörfer noch, fast etwas verschämt, viel kleinere, katholische Kirchen, Spuren der vorletzten großen Migrationswelle nach Thüringen in den Jahren 1945 und 1946. Damals kamen aus dem Osten rund 800.000 Menschen nach Thüringen, zum Beispiel katholische Schlesier. Und wer da behauptet, es seien ja damals Deutsche gewesen, die nach Deutschland flüchteten, dem sei ein Blick in die damaligen Zeitungen empfohlen. Da war wenig vom Pathos des Helfens zu spüren, aber viel von sozialen Besorgnissen, von der Angst, das Wenige, was nach dem Krieg übrig geblieben war, auch noch teilen zu müssen. Die kleinen verschämten katholischen Kirchen sind ein Spiegel dieses Unbehagens, und die Mehrheitsgesellschaft zog damals auch aus ihrer protestantischen Grundierung das „Wir“, das die „Anderen“ zu „Fremden“ machte.
Auch hier lässt sich die Liste fortsetzen. Deutschland war immer wieder Ziel von Fluchtwellen und Migrationsbewegungen, die sich teilweise in ganz anderen Größenordnungen bewegten, als die heutige. Ich erinnere an die nach Millionen zählende Arbeitsmigration nach Westdeutschland in den 60er und 70er Jahren. Ich erinnere an den Sonderfall der innerdeutschen Fluchtbewegung von Ost nach West in den 80er Jahren, die sich in den 90er und 2000er Jahren als Abwanderungswelle aus wirtschaftlichen Gründen fortsetzte. Ich erinnere schließlich an die Fluchtbewegungen nach Deutschland, vor allem infolge der Wirren und Bürgerkriege in und zwischen den Republiken des ehemaligen Jugoslawiens. Immer wieder trafen diese Bewegungen auf eine Gesellschaft, die sich in dem Irrtum wiegte, es handele sich nur um zeitweilige „Gäste“, denen man ein bestenfalls temporäres „Gastrecht“ als Flüchtlinge oder Gastarbeiter gewährte. Immer wieder finden sich in der Politik Kräfte, die bereit sind, zunächst diffuse Ängste in nationalistische und fremdenfeindliche Affekte zu überführen.
Mal war es die NPD, die 1969 kurz vor dem Einzug in den Bundestag stand, mal die Republikaner, die DVU und die NPD, die mit ihrer „Das-Boot-ist-voll“-Rhetorik in Landtage einzogen. Sicher, immer fanden sich in der Gesellschaft auch ausreichende Kräfte der Stabilität, des Pragmatismus und der – im besten Sinne des Worts – Beharrung, die eine weitreichende Destabilisierung verhinderten. Ich zitiere deshalb immer wieder gern einen meiner Vorgänger, Dr. Bernhard Vogel, der mit dem abgeklärten Blick des Alters auf die damals eskalierende Flüchtlingskrise im Oktober 2015 einer Veranstaltung sagte: „Ein Volk, das die Wiedervereinigung geschafft hat, wird auch das schaffen.“
Die später einsetzende Gelassenheit hat nach dem II. Weltkrieg dann tatsächlich einen Veränderungsprozess ermöglicht, der im Kern eine Modernisierung war. Aber diese Modernisierung wurde bis heute nicht in der Breite der heutigen gesellschaftlichen Debatten nachvollzogen. Deutschland ist aber ein Zuwanderungsland, das sich nur nicht als solches versteht. Diese Lücke zwischen Mentalität und Realität ist das Integrationshindernis Nummer Eins.
Für Thüringen kommt erschwerend hinzu, dass sich das Land in der längsten Zeit seit der Wende daran gewöhnt hat, nicht Ankunftsbahnhof sondern Abfahrtsbahnhof für Migranten zu sein, nämlich für diejenigen, die aus wirtschaftlichen Gründen den Weg von Ost nach West wählten, bestenfalls als Pendler, im Normalfall als westdeutsche Neubürger, die dort Kinder bekamen, Steuern zahlten und die wirtschaftliche Entwicklung antrieben. Rund 480.000 Entwicklungshelfer hat Thüringen auf diese Weise seit 1990 an Westdeutschland abgegeben. Das hat die politische Debatte geprägt. Die Thüringer haben gelernt, aus weniger mehr zu machen. Es gab eine Gewöhnung an den Rückbau, an das Leben in einer schrumpfenden Gesellschaft. Auch wenn ich vorhin beschrieben habe, dass es im historischen Längsschnitt anders war, für die heute lebenden Thüringerinnen und Thüringer ist es eine weithin neue Erfahrung, an einem Zielort für Flucht und Migration zu leben, ebenso neu wie die Erkenntnis, dass wir diese Menschen sogar dringend gebrauchen können. Auch in Thüringen haben wir diese Lücke zwischen Mentalität und Realität.
Die Mentalität spiegelt, ich habe es bereits gesagt, das Leben in einer Gesellschaft im Rückbau. Die Realität ist aber inzwischen zunehmend eine andere. Die Welt um uns herum ändert sich. Das dritte Jahrzehnt nach der Wiedervereinigung ist seit 2010 geprägt von der Gestaltung und dem Ausbau der Rolle Thüringens unter den deutschen und ostdeutschen Ländern. In diese Zeit fallen der Abschluss wichtiger Verkehrsinfrastrukturprojekte auf Straße und Schiene, der Ausbau der A9, der Anschluss der Thüringer Waldautobahn an die Südharzautobahn und die Aufnahme der ICE-Schnellstrecke nach Leipzig. Thüringen verfügt über eine einmalige Verkehrsinfrastruktur auf Straße und Schiene. Wir sind nicht nur die geografische Mitte Deutschlands. Wir sind die schnelle Mitte Deutschlands und Europas. Auch wenn wir hier in Jena den Verlust der vielen schnellen ICE’s beklagen müssen und hier die Landesregierung gerade kämpft für ein attraktives ostthüringer Verkehrsdrehkreuz und eine gute vertaktete S-Bahn für ganz Thüringen. Diese Lage in der Mitte Deutschlands und Europas ist – neben vielen motivierten und gut ausgebildeten Menschen – unser zentraler Standortfaktor. Thüringen ist in eine neue Phase der Landesentwicklung eingetreten, in der wir selbstbewusst den Anspruch erheben können, zu den Motorregionen Deutschlands vorzustoßen.
Dies spiegelt sich auch bereits in der Statistik wider. Die Arbeitslosigkeit sinkt, und das nicht nur wegen der Alterung, wie die gleichzeitig steigenden Erwerbstätigenzahlen zeigen. Bei der Bruttolohnentwicklung zählt Thüringen inzwischen zu den Spitzenreitern hinsichtlich der prozentualen Zuwächse. Die Zeiten, in denen niedrige Löhne der Standortfaktor waren, sind für Thüringen vorbei. Der Zuwachs der Einpendler übertrifft inzwischen den prozentualen Anteil der Auspendler. Bevölkerungsrückgang ist dort, wo wir ihn noch zu verzeichnen haben, nicht mehr auf Abwanderung sondern auf die Altersstruktur zurück zu führen. Große Logistiker reißen sich geradezu um Ansiedlungen am Thüringer Verkehrsknoten. Im 30-Km-Radius rund um die Landeshauptstadt Erfurt steht ein Boom als Kongressmetropole bevor, der sich in vielen Bauten und einem neuen Gesicht für Teile der äußeren Innenstadt niederschlagen wird. Boom-Town Jena zeigt mit seiner Forschung, Produktion und Lehre, wie schnell man auch an Grenzen kommen kann. Jena braucht zum Beispiel eine dringende Stärkung im Umlandbereich um all die Wachstumsimpulse für Thüringen aufnehmen und entwickeln zu können. Der Thüringen-Tourismus steht mit dem Reformationsjubiläum vor einem gewaltigen Entwicklungssprung und mit dem 100. Bauhausjubiläum steht das nächste Highlight vor der Tür. Mit einem Wort: Thüringen ist ein Land mit Luft nach oben.
Wir haben ein wirtschaftliches Wachstumspotenzial, das beträchtlich ist und das mit der Vollendung weiterer Infrastrukturprojekte noch größer wird. Unsere Achillesferse ist die Bevölkerungsentwicklung. Die Indikatoren dafür sind unübersehbar:
– Eine beträchtliche Anzahl unbesetzter Ausbildungsplätze, ca. 3.000 in diesem Jahr;
– Ein erkennbarer Personalmangel in fast allen Branchen, die sich personennahen Dienstleistungen widmen, zuvorderst in der Pflege;
– Ein nicht mehr zu ignorierender Rückgang an Bewerber/innen auf Stellen im öffentlichen Dienst in Thüringen, ob nun Polizisten, Feuerwehrleute, Lehrer oder Sozialarbeiter, überall sind für die Personaler die fetten Zeiten vorbei.
– Die Personaler großer Unternehmen in Thüringen klagen über Nachwuchsmangel. Ich fürchte, wenn wir jetzt nicht aktiv gegensteuern, dass dann womöglich bald Standortentscheidungen davon abhängen könnten.
Das sind Schlaglichter auf eine Entwicklung, die ihren statistischen Ausdruck in einer historisch niedrigen Arbeitslosigkeit findet, in manchen Thüringer Regionen herrscht Vollbeschäftigung. Aus der Mentalität einer Gesellschaft im Rückbau heraus würde man nun das Ende der Politik ausrufen. Wenn das Erreichte als Maß aller Dinge betrachtet wird, dann wird Stillstand zum Maß aller Dinge. Ich bezeichne das als selbstzufriedenen Stillstand. „Wo ist die nächste Schulter, auf die wir klopfen können. Toll gelaufen. 26 Jahre harte Arbeit werden belohnt. Alles kann so bleiben wie es ist.“
Nein! Kann es nicht!
Die Groß-Reformen, die jahrelang verschoben und nun von unserer Landesregierung angeschoben wurden, die Funktional-, Verwaltungs- und Gebietsreform, die Theaterreform, die Berufsschulnetzreform, diese Reformen sind nicht einem abstrakten rot-rot-grünen Wunschzettel entnommen, sondern sie sind notwendig, um diesem Land zukunftsfeste Strukturen zu geben. Wir wollen damit dem leistungsstarken Motor Thüringen auch eine moderne Karosserie geben, die seiner Leistungsfähigkeit entspricht.
Am Beispiel der Funktional-, Verwaltungs- und Gebietsreform kann ich konkretisieren, was das heißt. In der Öffentlichkeit wird sehr viel über Zahlen gesprochen. Wie viele kreisfreie Städte, wie viele Kreise, wie viele selbstständige Kommunen soll es geben, und am prominentesten wird die Frage diskutiert, ob und wie viel Geld durch eine solche Reform gespart werden soll. Die letzte Frage beantworte ich Ihnen schnell: null Euro. Es geht nicht darum, mit einer Reform abstrakte Zahlenkolonnen abzuarbeiten. Es geht um die Lösung eines einfachen Problems. In einer Gesellschaft, die sich ändert, die an der einen Stelle schrumpft und an anderen Stellen wächst, wachsen muss, in einem Land, das mit begrenzten Ressourcen neue Aufgaben lösen muss, in einem solchen Land, und da ist Thüringen alles andere als eine Ausnahme, muss sich staatliches Handeln der Frage stellen, ob es so effizient ist, wie es die Bürgerinnen und Bürger verdienen, und wie es die jetzt und künftig zu lösenden Aufgaben verlangen. Ein Land muss sich die Frage stellen, wie viele Bedienstete des Landes und der Kommunen eigentlich sich selbst verwalten, und wie viele im direkten Kontakt mit den Bürgerinnen und Bürgern Dienstleister für ein lebenswertes Thüringen sind. Und den Anteil letzterer müssen wir an jeder Stelle, wo das möglich ist, erhöhen. Es geht bei dieser Reform um die Lebensqualität im Land, nicht um die Euros in der Kasse und die Grenzlinien auf der Landkarte.
In diesem Zusammenhang sollten wir auch den Mut haben, über den Tag hinaus zu denken, und mit den Bürgerinnen und Bürgern darüber diskutieren, welche Erwartungen sie eigentlich an staatliches Handeln haben, und wie sie ihr eigenes Verhältnis zu staatlichem Handeln definieren. Ich war vor kurzem in Tatarstan. Ein dünn besiedeltes Gebiet. Dort erledigen die Menschen einen Gutteil der Erledigungen, die hierzulande in Bürgerämtern angeboten werden, über Terminals, die in allen Supermärkten hängen. Ich hatte nicht den Eindruck, dass es die Menschen stört. Und ich bin mir auch nicht sicher, dass es die Thüringerinnen und Thüringer so ein Angebot als Zumutung empfinden würden. Das ist Zukunftsmusik. Aber wir müssen als Staat endlich auch darüber reden, wie wir die Chancen der Digitalisierung richtig nutzen, um staatliche Ressourcen zielgerichtet einzusetzen.
Aber damit haben wir das Hauptproblem noch gar nicht adressiert. Wir müssen die Schrumpfung der Bevölkerung wenn nicht aufhalten, so doch wenigstens verlangsamen. Wo keine Menschen sind, ist auch keine Arbeit, wo keine Arbeit ist, ist auch kein Wohlstand. Um unseren Wohlstand zu halten, brauchen wir, braucht die Thüringer Wirtschaft in den nächsten Jahren 200.000 Fachkräfte. Diesen Bedarf kann das Land nicht aus dem eigenen Nachwuchs decken, vor allem nicht in Konkurrenz zu anderen Regionen mit ähnlichen Problemen. Diesen Bedarf kann auch keine Flüchtlingswelle decken, so naiv wird niemand sein. Diesen Bedarf können wir nur dann decken, wenn es dauerhaft Zuwanderung nach Thüringen gibt. Thüringen muss sich als Zuwanderungsland begreifen, um zukunftsfähig zu werden. Politik in demokratischer Verantwortung für die Zukunft Thüringens muss sich der Aufgabe stellen, um demokratische Mehrheiten für einen Kurs der modernen Zuwanderungspolitik zu werben, mit allen ökonomischen, kulturellen und sozialen Konsequenzen, die das mit sich bringt.
Wir haben in Wirklichkeit gar nicht die Option, uns einem provinziellen Nationalismus, Chauvinismus oder gar Rassismus hinzugeben. Dieses Land hat weiß Gott andere Probleme, als die Frage, ob am Rand von Erfurt eine kleine Moschee gebaut wird, ob Deutsch als Landessprache in der Thüringer Verfassung gesondert steht, und ob Fußballnationalspieler weiße Haut und deutsche Namen haben müssen. Damit plädiere ich nicht dafür, die Ängste der Menschen zu ignorieren oder nicht ernst zu nehmen. Ich plädiere nur dafür, sie anders zu adressieren und politisch zu verarbeiten, dazu werde ich im zweiten Teil dieser Rede noch sprechen.
Aber ich habe meine letzte Regierungserklärung im November 2015 ganz bewusst unter das Motto „Wachsen lernen“ gestellt, und ich meine damit, dass sich die Landespolitik, wenn sie das Land nach vorn verändern will, dem neuen Leitbild einer sozialen Einwanderungsgesellschaft verpflichten muss, zu dem ich ebenfalls im zweiten Teil meiner Rede sprechen werde.
Doch zunächst ziehe ich ein Zwischenfazit: Zuwanderungsland zu sein ist für Thüringen im historischen Längsschnitt kein Novum. Thüringen muss sich verändern, wenn wir unseren Wohlstand auch in Zukunft erhalten wollen. Zuwanderung ist der Schlüssel, der uns die Türen für eine tragfähige Landesentwicklung öffnet. Wir brauchen Zuwanderung, um unseren Wohlstand zu halten. Wenn wir Zuwanderung nicht als Übel sondern als politischen Gestaltungsraum begreifen, dann können wir das Land nach vorn verändern. Eine Politik, die das Land nach vorn verändern will, muss um Mehrheiten für eine moderne Zuwanderungs- und Integrationspolitik werben.
II) Vom Zuwanderungsland zur sozialen Einwanderungsgesellschaft
Das Plädoyer für die Entwicklung eines Selbstverständnisses als Zuwanderungsland ist, und auf diese Abgrenzung lege ich großen Wert, nicht gleichbedeutend mit einem Plädoyer für offene Grenzen für alle. Dies war und ist nicht die Position der Thüringer Landesregierung. Die humanitär begründete Aufnahme von Hunderttausenden in Deutschland seit dem Sommer 2015 war eine schwere, aber richtige Entscheidung. Die schnelle und effektive Integration derjenigen, die länger oder für immer bei uns bleiben, ist eine Aufgabe, die wir schaffen können und schaffen müssen. Und ein Blick auf die aktuellen Umfragen zeigt ja, dass sich die diesbezüglichen Sorgen der Menschen langsam legen. Das jüngste Politbarometer weist aus, dass 61 Prozent der Befragten der Meinung sind, Deutschland könne die Aufnahme der Flüchtlinge verkraften, das sind wieder ungefähr die Werte, die wir vor den Entscheidungen vom Herbst 2015 hatten, Tendenz leicht aber kontinuierlich steigend.
Ja, eine laute Minderheit ist weder einverstanden noch zu überzeugen. Sie hat nun im Landtag und auf Demonstrationen noch ein noch lauteres Sprachrohr, und mit marodierenden Neonazibanden auch leider einen gewalttätigen Arm. Damit müssen wir lernen umzugehen. Vielleicht etwas empathischer und nach vorne gerichteter, was die Ansprache derjenigen angeht, die Ängste artikulieren, aber überzeugbar und ansprechbar sind. Vielleicht etwas gelassener, was diese Schreihälse angeht, von denen wir aber nicht jeden politischen Rülpser tagelang diskutieren müssten. Aber sicher an der einen oder anderen Stelle auch etwas entschlossener beim Kampf gegen politische Hasskriminalität. Es darf kein augenzwinkerndes Schweigen des Staates geben, wenn rechte Gewalt das Land überzieht. Aber dies alles zählt zunächst einmal zu den Pflichtaufgaben von Politik in Verantwortung. Den Rücken gerade machen, wenn der Wind weht. Mut machen statt Angst schüren, wenn die Probleme sich verdichten. Das kann man von einer Politikergeneration, die seit Jahrzehnten nur Demokratie, Freiheit und Frieden kennt, durchaus erwarten.
Darüber hinaus müssen wir, und damit spreche ich die gesamte demokratisch gesinnte politische Klasse an, aus einer zweifellos schwierigen innen-, sicherheits- und europapolitischen Ausgangslage heraus eine Idee für eine nach vorn gerichtete Gestaltung des unausweichlich vor uns liegenden Veränderungsprozesses entwickeln und kommunizieren. Wir müssen und werden über das reine Krisenmanagement der Flüchtlingskrise hinauswachsen, wir müssen und werden Scheindebatten, z.B. ob der Islam zu Deutschland gehört, und ob Nationalspieler deutsche Namen haben müssen, hinter uns lassen und in ein gesellschaftliches Gespräch darüber einsteigen, wie unser Land morgen und übermorgen aussehen soll. Das System von Aushilfen und Notpflastern für die Bewältigung multipler Krisen kommt an seine Grenzen. Es gibt auch keine Zeit mehr, die wir mit noch so viel Geld kaufen könnten. Das Gespräch über die Zukunft duldet keinen Aufschub, zumal sich das Lager derjenigen, die ein abgeschottetes Land wollen, in dem die Skrupellosen die Ängstlichen regieren, schon konstituiert hat.
Dabei muss Politik den Mut haben, von überkommenen Denkschablonen Abschied zu nehmen.
Das Zeitalter des Neoliberalismus, in dem Gemeinwohl angeblich durch Konkurrenzkampf entstehen soll, Gerechtigkeit, die vermeintlich an den Finanzmärkten statt durch solidarische Sozialversicherungen organisiert werden sollte, und der ganze Staat sich einer hegemonialen Ideologie der Austerität unterwerfen sollte, dies alles ist wohl vorbei. Diejenigen, die das noch nicht bemerkt haben oder schlicht nicht wahrhaben wollen, wagen immer wieder den untauglichen Versuch, neue Herausforderungen mit alten Lösungen anzugehen und verstärken damit nur den Vertrauensverlust. So ist die Legitimationskrise des europäischen Integrationsprojekts vor allem die Krise einer gescheiterten Wirtschaftsideologie. Wir dürfen uns nicht wundern, wenn viele von einer EU nichts mehr erwarten, die ihnen vor allem als anonyme Macht entgegentritt, die ihre Löhne, Renten und Sozialleistungen für zu hoch hält, aber die Bankenpaläste in der Londoner City immer weiter machen lässt, um bei Krisen genau dieser Banken dann den schnöden Steuerzahler wieder heranzuziehen.
Die lange verbreitete Illusion, dass der Markt der allheilbringende und überlegene Mechanismus zur Allokation von Ressourcen ist, erledigt sich mit jedem Blick auf den Zustand unserer Infrastruktur. Da stehen heruntergekommene Schulen neben herausgeputzten Bankfilialen. Und ich kann die Eltern gut verstehen, die sich dann fragen, wofür in diesem Land eigentlich wieviel Geld vorhanden ist.
Die Zeiten, in denen sich die Wirtschaft in unerschöpflich erscheinenden unausgeschöpften inländischen Arbeitskraftreserven bedienen konnte, gehen ihrem unwiderruflichen Ende entgegen. Viele, auch viele in Verantwortung, wollen dies noch nicht wahrhaben und preisen an den Stammtischen alte Rezepte an.
Das vergangene Jahr hat die Lebenslüge des Westens, man könne Armut und geopolitische Krisen exportieren, und die Reimporte in Form von Flüchtlingswellen an den europäischen Grenzen zurückweisen, wie eine Seifenblase zerplatzen lassen. Das hindert rechte Demagogen natürlich nicht daran, die Lüge von den goldenen Verheißungen eines abgeschotteten Kontinents zu verbreiten und vermeintlich heile frühere Zeiten zu preisen.
Schon lange vorbei sind schließlich die Zeiten, in denen zum deutschen oder europäischen „Wir“ das Bekenntnis zu einer Religion, einer damit verbundenen Lebensweise gehörte. Viele hierzulande leben die Vielfalt längst. Einigen macht sie Angst. Und manche wollen aus dieser Angst politisches Kapital schlagen.
Man kann es vielleicht so sagen: Mit der Flüchtlingskrise hat die Geschichte wieder unüberhörbar an unsere Tür geklopft. Wir sind gut beraten, als Antwort nicht unsere Tür zur verrammeln, im wörtlichen und im sprichwörtlichen Sinn.
Wir sollten stattdessen den davon ausgehenden Veränderungsimpuls als Katalysator für eine nach vorn gerichtete Reformpolitik zum Wohle der Vielen und zum Wohle des Ganzen nutzen.
Eine Politik, die das Land nach vorn verändern will, muss die historischen Brüche, in denen wir leben, die uns Herausforderungen und Zumutungen bringen, benennen, ohne die Illusion zu verbreiten, es gebe ein Zurück in vermeintlich gute alte Zeiten. Weil es nicht bleiben kann, wie es ist, müssen wir mehr Veränderung wagen. Auch wenn uns jetzt wieder Geister aus einer bösen Vergangenheit begegnen, dürfen wir uns nicht beirren lassen, die Integration von Flüchtlingen und Zuwanderern als Teil eines gesellschaftlichen Modernisierungsprojekts anzugehen. Wenn wir auf das Bündnis der rechten Hetzer nur defensiv reagieren und bestenfalls verschämt um Verständnis werben, dann landen wir im Hintertreffen, dann werden wir tatsächlich und in den Augen der Bevölkerung zu Vollzugshelfern der antimodernen und rechtsradikal grundierten Agenda einer lauten Minderheit.
Der Gegenentwurf zu Stillstand und Rückwärtsgewandtheit ist die Vision von einer sozialen Einwanderungsgesellschaft, in der sich sozialer Fortschritt, wirtschaftliche Transformation sowie politische und kulturelle Modernisierung vereinen.
Den letzten Abschnitt meines Redebeitrags werde ich darauf verwenden, einige Ansätze für die politische Untersetzung dieses Leitbilds zu skizzieren:
1) Zuwanderung gestalten:
Ich habe bereits ausgeführt, dass Thüringen als Teil der Bundesrepublik auf Zuwanderung angewiesen ist. Deutschland ist ein Zuwanderungsland. Es muss sich endlich auch als solches begreifen, was nicht heißt, jeden Steuerungsanspruch aufzugeben. Offene Grenzen sind eine Tatsache. Dass sie bisher von Seiten der Bundesrepublik nicht geschlossen wurden, ist nicht selbstverständlich. Offene Grenzen bedeuten aber nicht, dass sich Zuwanderung und Integration ohne Regeln vollziehen könnte. Soziale Verantwortung setzt sich nicht im Selbstlauf durch. Gelingende Integration beginnt dagegen mit einem geordneten und sicheren Zugang nach Deutschland, der regulär über verschiedene Zugangswege erfolgen kann:
Die Modernisierung unseres Staatsbürgerrechtes. Wer hier geboren und hier sozialisiert wurde, der muss einen Anspruch auf Staatsbürgerschaft haben.
Ein Einwanderungssystem, das Zuwanderung, Migration und Flucht umfasst.
Das individuelle und grundgesetzlich garantierte Recht auf Asyl.
Das Aufenthaltsrecht für Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge, das automatisch für die Zeit der Kriegshandlungen gelten sollte, wobei auch ein Asylantrag gestellt werden oder die Einwanderung zu Arbeitszwecken eingeleitet werden kann.
Die Arbeitsmigration: Deutschland braucht Zuwanderung und muss deshalb seine Türen für diejenigen öffnen, die hierherkommen wollen, um zu arbeiten, zu leben, eine Familie zu gründen und zu ernähren, Steuern und Sozialbeiträge zu zahlen, kurz: um sich ein neues Leben aufzubauen. Die Vorstellung, dass dies mit qualifikationsbezogenen Selektionsmechanismen gesteuert werden könnte, ist freilich absurd, zumal der Bedarf an Arbeitskräften sich längst nicht mehr auf wenige Branchen, und schon gar nicht auf Hochqualifizierte beschränkt.
Jeder der seinen Lebensunterhalt mit Arbeit sichern kann, sollte automatisch auch eine Aufenthaltserlaubnis bekommen, und auch wer es noch vorhat, sollte einen ausreichenden Zeitpuffer bekommen, um sich hier eine Arbeit zu suchen. Ein Asylantrag sollte endlich gegen eine Arbeitserlaubnis getauscht werden können.
Zu diesen Wegen müssen eine umfassende Altfallregelung sowie Schutzmechanismen für Härtefälle treten. Die diesbezüglichen gesetzlichen Regelungen müssen gesetzlich niedergelegt werden. Deutschland hat mit der Vorlage eines Integrationsgesetzes „A“ gesagt, nun sollte Deutschland auch „B“ sagen und daraus ein umfassendes Einwanderungs- und Integrationsgesetz werden lassen. Ein Zuwanderungsland braucht ein Einwanderungsgesetz.
2) Integration von unten:
Wir wären gut beraten, die Denkschablonen einer paternalistischen und mit Sanktionsdrohungen durchgesetzten Integrationspolitik, die auch in weiten Teilen des jetzt vorliegenden Integrationsgesetzes durchscheinen, durch den Ansatz der Integration von unten zu ersetzen. Warum schließen wir nicht mit Flüchtlingen, schon wenn sich ihr Bleiben abzeichnet, einen Integrationsvertrag ab, der ein Integrationsdreieck aus einer Kommune, einem Bundesland, und den zuständigen Bundesbehörden (BAMF und Bundesagentur für Arbeit) konstituiert. Der Flüchtling müsste sich zur Mitwirkung bei der Integration in einem einjährigen „Deutschland-Praktikum“ an einem Ort verpflichten. Dieses Praktikum fände in einer Kommune statt, die eine Integrationspatenschaft für den betreffenden Flüchtling übernehmen würde. Zur Patenschaft gehört die Bereitstellung von Wohnraum und die lebensweltliche Integration des Neubürgers (bspw. durch Einbindung in die Bereitstellung sozialer Dienstleistungen oder Aufrechterhaltung des sozialen Lebens). Bundesbehörden und Bundesland übernehmen die Bereitstellung von Beratungs- und Bildungsangeboten (Sprachkurse, wohnortnahe Einstiegspraktika usw.). Diese Form der organisierten Integration muss aber auch mit ausreichenden Finanzmitteln des Bundes aktiv begleitet werden.
Dies muss dazu führen, dass auch die Teilnahme am Deutschland-Praktikum ein Nettoeinkommen in Höhe des Mindestlohns ermöglicht. Ich bin mir sicher: ein solches Angebot müsste nicht mit Sanktionsdrohungen erzwungen werden und würde in der Bevölkerung als Kombination aus Pflichten und Angeboten (mit einem erfahrbaren Mehrwert) auf Akzeptanz stoßen. Wenn Flüchtlinge in das soziale Leben eingebunden sind, zum Beispiel indem sie als Alltagshelfer/innen ortsansässigen Senior/innen oder junge Familien bei der Bewältigung des täglichen Lebens – von der Einkaufshilfe bis zum Mehrgenerationenhaus – helfen, dann haben es Hetzer schwer. Eins solcher Ansatz bedürfte allerdings auch eines Einwanderungs- und Integrationsgesetzes, das tatsächlich kreative institutionelle Arrangements ermöglicht und den Kommunen, die jeden Tag Riesiges leisten, so viel Raum und Ressourcen einräumt, dass sie ihre Stärken tatsächlich ausspielen können. Man könnte es Integrations-ABM nennen oder Neubürger-Arbeit, entscheidend ist aber die gelingende gesellschaftliche Integration. Da ist es mir egal wie es letztlich heißt.
3) Soziale Grundgewissheiten schützen:
Deutschland ist Fluchthafen, weil es im globalen Maßstab ein attraktives Land ist, eines, in dem man, wie mir einmal ein Flüchtling sagte, am Sonntag mit Zahnschmerzen kostenlos zum Zahnarzt gehen kann. Aber wirklich alle Bürger unseres Landes müssen sich einen Zahnarzt erstmal wieder leisten können, denn Zahnprothetik ist wieder zum sicheren Armutsindikator geworden. Denn der Kanon von sozialen Grundgewissheiten, der im Kern allen Menschen das Versprechen gibt, dass sie für ihre Bereitschaft zum Mitwirken am Fortkommen unseres Gemeinwesens eine Absicherung der großen Lebensrisiken erhalten, ist ins Wanken geraten. Es gibt aber keine Weltoffenheit ohne soziale Sicherheit. Deshalb brauchen wir nicht weniger eine Sozialstaatsgarantie für alle Bürger, denn die Wiederinkraftsetzung von sozialen Grundgewissheiten muss zur vornehmsten Aufgabe aller Politik erklärt werden. Dazu gehört nicht nur, dass der Abbau des bestehenden Niveaus der sozialen Sicherung ausgeschlossen wird. Das muss viel mehr auch beinhalten, dass sich die Gesellschaft darüber verständigt, wie soziale Sicherung in einer Welt mit zunehmend flexiblen Lebensläufen und immer stärker ausdifferenzierten Lebensentwürfen gewährleistet wird.
Eine universelle Absicherung von Phasen der Erwerbslosigkeit, die Absicherung der Gesundheitsversorgung für prekäre Selbstständige und eine gesetzliche Rente, die den Lebensstandard sichert und Armut verhindert, das sind nur drei der Stichworte, über die es einen Diskurs geben muss.
Warum sollten wir jetzt nicht konsequent an einer modernen Bürgerversicherung arbeiten? Jeder zahlt ein, aus jedem Einkommen was man hat, ein Beitrag ohne Beitragsbemessungsgrenze und ohne Unterscheidung von Arbeitern, Angestellten, Beamten oder Wahlbeamten, wie mich. Einer trage des anderen Last, und wer mehr tragen kann, der solle auch etwas mehr tragen. So können wir das Land sozial sicherer machen, als Qualität für alle Menschen. Als Schutz vor Angst und Hetze.
4) In die soziale Infrastruktur investieren
Der Zustand der sozialen Infrastruktur ist aus Sicht der Bürgerinnen und Bürger ein Indikator für die Funktionsfähigkeit des Gemeinwesens und die Handlungsfähigkeit der zuständigen Institutionen und Personen. Wo Schulen, Straßen und Krankenhäuser marode und Streifenpolizisten im Straßenbild die Ausnahme sind, dort erodiert auch das Vertrauen der Menschen in das demokratisch verfasste Gemeinwesen. Davon abgesehen braucht eine Gesellschaft, die wachsen will, ein neues Paradigma für Pflege und Ausbau der Infrastruktur. Eine Gesellschaft im Rückbau muss aus weniger mehr machen.
Eine Gesellschaft, die wieder wachsen lernt, muss auch wieder Mechanismen entwickeln, um einen expansiven Ausbau der Infrastruktur in Angriff zu nehmen. Die zentrale institutionelle Wachstumsbremse ist deshalb der Mythos von der Schuldenbremse. Man kann es auch einfacher sagen: Die schwarze Null wird zum Problem, wenn sie letztlich braune Nullen stark macht. Aber weil die verfassungsmäßige Verankerung die kurzfristige Aussetzung oder gar Abschaffung dieses fiskalpolitischen Irrsinns unwahrscheinlich macht, müssen wir nach Möglichkeiten suchen, Kapital für Investitionen in öffentlicher Verantwortung und öffentliches Eigentum zu mobilisieren, ohne die Schuldenbremse zu tangieren. Der ehemalige Berliner Wirtschaftssenator Harald Wolf hat für die Auflösung des Sanierungsstaus an öffentlichen Gebäuden das Modell der öffentlich-öffentliche Partnerschaften entwickelt. Eine landeseigene Gesellschaft soll das Kapital für Investitionen mobilisieren und diese vorfinanzieren, um dann die Liegenschaften an die öffentliche Hand kostendeckend, d.h. auch die Refinanzierung des eingesetzten Kapitals absichernd, zu vermieten. Dieses Modell scheint mir auf jeden Fall einen zweiten Blick wert zu sein. Wir werden in jedem Fall Kreativität und Pragmatismus brauchen, um dieses Problem zu lösen. Aber eine stabile Gesellschaft, die neue Menschen willkommen heißt und integriert, braucht eine starke und funktionierende soziale Infrastruktur.
Ich komme zum Schluss . Mein Redebeitrag stand unter dem Titel „Von der Zuwanderungsgesellschaft zur sozialen Einwanderungsgesellschaft“. Ich habe hier abschließend vier praktische Politikfelder beschrieben, auf denen wir diesen Weg beschreiten können und beschreiten sollten. Ich hätte andere und weitere auswählen können. Der entscheidende Gedanke, dem wir uns miteinander annähern sollten, ist der, dass sich unsere Gesellschaft wandeln wird, weil sie sich wandeln muss. Ein Weiter so gibt es ebenso wenig wie ein Zurück zu alten Zeiten. Die Geschichte kennt keinen Rückwärtsgang.

An diesem für Sie wichtigen Tag möchte ich Sie daher dazu aufrufen, wo auch immer sie ihren beruflichen Weg beginnen und gehen, an der aktiven Gestaltung dieses Wandels mitzuwirken. Deutschland ist ein Einwanderungsland, Thüringen ist ein Zuwanderungsland. Als soziale Einwanderungsgesellschaft haben wir eine Zukunft. Machen Sie mit!