Doris Grozdanovičová ist über 90 Jahre alt und eine zierliche Frau. Nicht ganz mühelos steigt sie auf die kleine Bühne, die wegen der drückenden Mittagshitze unter einem weißen Zeltdach aufgebaut wurde. Mit kräftiger Stimme adressiert sie auf Englisch das Publikum, das heute in der Gedenkstätte Theresienstadt zusammen gekommen ist, um der Opfer des Holocaust durch die Enthüllung eines Denkmals, „Das Monument für die Opfer der Shoah“, zu gedenken.
Frau Grozdanovičová hat dieses Lager überlebt. Sehr eindrücklich schildert sie das Grauen des Lagers und wie es ihr Leben bis heute prägt. 33.000 Menschen starben in Theresienstadt, fast 90.000 wurden von hier aus weiter in die Vernichtungslager deportiert. Unter den Toten Kurt Tucholskys Mutter Doris, die Schwester von Sigmund Freud, Esther, die Vertraute Rosa Luxemburgs, Mathilde Jacob und die vielen, deren Namen nicht so bekannt, deren Schicksal aber nicht weniger ergreifend ist. Doris Grozdanovičová hat sich nicht unterkriegen lassen, ihre Ausbildung nachgeholt, ist bis heute international unterwegs, um als Zeitzeugin gegen das Vergessen zu wirken. Gestern noch war sie in dieser Angelegenheit in Dresden.
Es fällt mir nicht leicht, als einziger politischer Vertreter Deutschlands nach ihr zu sprechen. Ich bin als Thüringer Ministerpräsident durch den Europäischen Jüdischen Kongress eingeladen worden, eine „Schlussbemerkung“ zu machen. Im Publikum sitzen der Präsident des Europäischen Jüdischen Kongresses, der Präsident des Verbandes Tschechischer Jüdischer Gemeinden, die Botschafter/innen Ungarns, Israels und Deutschlands, die stellvertretende tschechische Bildungsministerin.
„Der Tod war ein Deutscher“, leite ich meine Rede ein und komme auf das schwere Erbe zu sprechen, das auch meine Heimatstadt, u.a. in Form der „Ofenbauer“ Topf und Söhne zu tragen hat. Im Rahmen der Erfurter ACHAVA-Festspiele wurde vor einem Jahr Verdis „Messa Da Requiem“ aufgeführt. Das Konzert war den ermordeten Musiker/innen und allen nach Theresienstadt deportierten Menschen gewidmet. Wir kennen die vertonte Bitte um ewige Ruhe für die Verstorbenen: „Ewige Ruhe gib ihnen, Herr. Und ewiges Licht leuchte ihnen“. Diese christliche Totenmesse kam im Ghetto in Theresienstadt zu außerordentlicher, wenn nicht zu makabrer Geltung: 1944 wurde das Requiem genau 16 Mal aufgeführt – von einem jüdischen Gefangenenchor. Die Gefangenen besangen ihren eigenen, nahenden Tod. Und doch war die gesungene Totenmesse ein Akt des Widerstands, der Selbstbehauptung und der Entrüstung über die Zerstörung der Menschlichkeit. Beim Singen des Requiems von Tod und Erlösung reichten sich Christen und Juden im gemeinsamen Kampf gegen Hitlers Gewaltherrschaft die Hand.
Auch das „Monument für die Opfer der Shoah“ des tschechischen Bildhauers Aleš Veselý ist ein Teil der Erinnerungskultur, die heute wichtiger denn je erscheint: Ein großer, mächtiger, runder Stein, der auf einem Metallgestänge so angebracht ist, dass er wie in einem surrealistischen Gemälde zu schweben scheint. Die Wahl fiel auf ihn, da Einlagerungen in dieser Gesteinsart, wenn man deren Inneres aufbricht und poliert, an hebräische Schriftzeichen erinnern. Nur, wer ins Innere blickt, versteht. Die Wahl fiel auf ihn, da er an den jüdischen Brauch erinnert, einen kleinen Stein auf den Gräbern Verstorbener zu hinterlassen. Suchte man einen Stein für alle Opfer, wäre vermutlich selbst dieser Koloss zu klein bemessen.
Ich schließe meine kurzen Ausführungen mit einem Appell: „Lassen Sie uns gemeinsam einstehen gegen das Vergessen. Und lassen Sie uns auch weiterhin eintreten für eine von Menschenwürde getragene Gesellschaft.“ Bei der anschließenden Kranzniederlegung streift mein Blick eine benachbart angebrachte Gedenkstehle für russische Kriegsgefangene aus dem ersten Weltkrieg. „Manche Orte sind vielschichtig wie eine Zwiebel“, denke ich, „und man kann sich dem Innersten nur unter Tränen nähern.“
Orte wie Theresienstadt meint der französische Historiker Pierre Nora, wenn er von „Lieux de Mémoire“ schreibt. Es sind Orte wie dieser, die alle Europäerinnen und Europäer – auf unterschiedlichste Weise – geprägt haben und dem kollektiven Gedächtnis erhalten geblieben sind und die durch ihre geschichtsträchtige, symbolische Bedeutung unsere Identität prägen. Es ist der Geist dieses Besuchs, der mich bei Folgeterminen nicht loslässt und, der mich auch vorausgegangene Termine in einem anderen Licht betrachten lässt: