Zwei bewegende Tage

Im Urlaub erreichte mich die Nachricht, dass erneut in Buchenwald Bäume geschändet wurden, die im Rahmen des Gedenkprojektes „1000 Bäume der Erinnerung“ zum Gedenken an die Opfer des KZs Buchenwald entlang der Blutstraße, der Buchenwaldbahn und der Routen der Todesmärsche, gepflanzt wurden.

Zum dritten Mal binnen kurzer Zeit vergriffen sich Täter an diesen neu gepflanzten Bäumen und zerstörten sie – welch eine infame Tat, welch ein Frevel.

Am Sonntag, den 31.7.2022 war aus Anlass des 15. Jahrestages der Aktion „Steine gegen das Vergessen – Gedenkort Buchenwaldbahn“ ein Gedenkmarsch vom Bahnhof Weimar zur Gedenkstätte KZ Buchenwald geplant. Ich unterbrach – auch im Lichte der oben beschriebenen unsäglichen Taten – spontan meinen Urlaub und kündigte meine Teilnahme an, um gemeinsam mit vielen Bürgerinnen und Bürgern ein deutliches Zeichen zu setzen. Mit Blick auf die Baumschändungen ist meine Devise glasklar: „Auf jeden geschändeten mindestens zwei neue Bäume!“ Meine Spende als Landtagsabgeordneter habe ich sofort überwiesen und gebe die Kontonummer der Lebenshilfe gern auch hier noch einmal an alle Lesenden weiter:

Lebenshilfe-Werk Weimar/Apolda e.V.
Sparkasse Mittelthüringen
IBAN DE21 8205 1000 0301 0085 07
BIC HELADEF1WEM
Verwendungszweck: „1000 Buchen“.

Es hat mich tief bewegt, wie viele Menschen an diesem Sonntag – schon sehr früh am Morgen und entlang aller Stationen – auf den Beinen waren. Besonders beeindruckten die Musiker des Festivals „Yiddish Summer“ rund um Alan Bern. Sie begleiteten uns mit Musik, die im wahrsten Sinne des Wortes unter die Haut ging.

Vor der letzten Station, an der wir voller Freude auch drei Bäume bestaunen konnten, die von einem Baumretter wunderbar geschient und versorgt worden waren, kam Alan Bern auf die Idee, uns einzuladen, den letzen Kilometer rückwärts zu gehen. Also drehten sich alle Musiker um und Hunderte taten es ihnen gleich. 40 Musiker gaben den Ton an und getragen von der Klezmermusik liefen wir bis zu der Stelle, an der die 111 neuen Steine platziert wurden – 111 Namen von Kindern, die auf dieser Strecke in Viehwaggons in den Tod nach Auschwitz gefahren wurden. Junge Menschen, die gerade ihre Freiwilligenarbeit bei Aktion Sühnezeichen leisten, haben sich mit der Geschichte dieser 111 Kinder beschäftigt, die Namen zusammengetragen, auf Steine gezeichnet und dann auch alle Namen verlesen. Kein Opfer darf vergessen werden und deshalb muss man auch die Geschichte dieser 2000 Kinder weiterhin Stück für Stück aufklären und entlang der Buchenwald-Bahn die Steine mit den Namen als großes, sich ständig weiterentwickelndes Gedächtnis-Projekt wachsen lassen. So bekommen die Opfer ein Gesicht und ihren Namen zurück, für alle sichtbar. Beides – die Bäume und die Steine – eingebettet in die Arbeit der Gedenkstätte Buchenwald geben uns eine sehr deutliche Botschaft: Hinsehen statt Todschweigen. Geschichte auf- und annehmen. Verantwortung erkennen und leben statt „180-Gradwende“ und „Vogelschiss“.

Zwei Themen verbanden jenen Sonntag in Buchenwald mit dem nächsten Gedenktag genau zwei Tage später. Dieselbe Buchenwald-Bahn, über die diese 111 Kinder in die Hölle von Auschwitz gebracht wurden, transportierte vice versa noch arbeitsfähige männliche Sinti und Roma am 2. und 3. August 1944 aus Auschwitz nach Buchenwald. Diese Menschen wurden nur nach Buchenwald verschleppt, um durch Arbeit letztlich ebenfalls ermordet zu werden – zu wenig Nahrung, unmenschliche Behandlung und permanente körperliche Zerstörung durch härteste Arbeit.

Am 2. August 1944 lösten die SS-Schergen in Auschwitz-Birkenau das sogenannte „Zigeuner-Lager“ auf. Damit begann der finale Versuch, auch alle Sinti und Roma im Machtbereich der NS-Faschisten zu ermorden.

Im Gedenken an dieses Menschheitsverbrechen hat das Europaparlament den 2. August zum Internationalen Gedenktag für den Massenmord an Sinti und Roma deklariert. Bislang war aber noch nie ein höchstrangiger Repräsentant der Bundesrepublik Deutschland in Auschwitz anwesend, wenn die Internationale Vertretung der Sinti und Roma aus diesem traurigen Anlass zusammenkommt, um gemeinsam zu trauern. Romani Rose hatte mich eingeladen und gebeten auch das Wort zu ergreifen. Mich begleiteten Prof. Reinhard Schramm, der Vorsitzende der Jüdischen Landesgemeinde in Thüringen und der Leiter der Gedenkstätte KZ Buchenwald und Dora, Herr Prof. Jens-Christian Wagner.

Reinhard Schramm nimmt mit seiner Frau schon seit Jahren an dem Gedenken in Auschwitz am 2. August teil. Es war es mir daher eine große Ehre, ihn zu diesem Termin begleiten zu dürfen. Mit Herrn Prof. Wagner bin ich am Sonntag den ganzen Tag auf dem Gedenkweg in Weimar zusammen gewesen.

In Auschwitz habe ich zuerst im Stammlager einen Kranz zum Gedenken an alle Opfer an der Mordwand niedergelegt – an eben der Stelle, an der ich auch mit meinem Amtskollegen aus Schleswig-Holstein, Daniel Günther, vor einigen Jahren gemeinsam der Opfer gedacht habe. Mein Eintrag ins Gedenkbuch erfolgte dann direkt vor der Gaskammer, die mit der Technik von Topf und Söhne kombiniert als grausamer Versuchsort konzipiert wurde, um den Genozid vorzubereiten, bevor man in die Fabrik des Todes, Auschwitz-Birkenau, umzog und ihn in unvorstellbarem Ausmaß in Gang setzte. Dieser fabrikmäßige Völkermord ist und bleibt der Zivilisationsbruch, der bereits 1941 mit Massenerschießungen in der von NS-Deutschland überfallenen Sowjetunion begann. Wie unfasslich diese nicht für möglich gehaltene Untat bis heute ist, zeigen die Worte von Theodor W. Adorno („Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch.“), Paul Celan (die „Todesfuge“) und der aufrechte Gang des hessischen Generalstaatsanwaltes Fritz Bauer.

Nachkriegsdeutschland hat sich lange schwer getan, diesen Ort als Ausgangspunkt der eigenen Erinnerungsarbeit zu begreifen.

In die Gegenwart drängt all dies in einer ganz anderen Form, wenn man bedenkt, dass der russische Angriffskrieg auf die Ukraine gerade einmal 200 km entfernt ist. Es bleibt aber genauso eine Tatsache: es waren die sowjetischen Soldaten, die Auschwitz befreiten und das Morden beendeten, unter ihnen auch Soldaten, die aus der Ukraine kamen. Vor den Toren von Auschwitz standen Russen, Ukrainer, Moldawier uvm. zusammen und kämpften gemeinsamen gegen den Wahnsinn von Rassenhass, Antisemitismus und Nationalismus. Jetzt stehen solche Motive greifbar im Raum und zerstören Gemeinsinn, Freundschaften und gute Nachbarschaften.

Eine Minderheit trifft es gerade wieder sehr konkret: die Sinti und Roma. Deshalb war es wichtig, dass die EU-Kommissarin für Gleichstellung, Frau Dalli und der deutsche Antiziganismus-Beauftragte, Herr Daimagüler, mit mir gemeinsam am Mahnmal der Sinti und Roma in Auschwitz-Birkenau am Ort des sogenannten „Zigeuner-Lagers“ trauerten. Meine Rede möchte ich hier zum Nachlesen aufführen. Sie zeichnet den Spannungsbogen von der ersten Verfolgung zur Vernichtung und der zweiten Verfolgung durch Herabwürdigung und Verhöhnung bis zur Gegenwart nach, in der antiziganistische Ressentiments wieder all überall greifbar werden.

Meine Hoffnung liegt auf der Erkenntnis, dass ein vielfältiges und demokratisches Europa unser aller Zuhause ist. Der Wert von Freiheit, Demokratie und Vielfalt bemisst sich insbesondere daran, wie Gesellschaften mit ihren Minderheiten umgehen und ob sie willens und bereit sind, ihre Rechte mit aller Kraft zu stärken und ihren Perspektiven gleichberechtigt Raum zu geben. Wer hier nicht eindeutig ist, der vergeht sich an allen Werten von Mitmenschlichkeit, Humanität und Demokratie.

Deshalb habe ich in meiner Rede nicht nur dem Gedenken und der Trauer viel Raum gegeben, sondern auch Schlaglichter auf unser Heute und das Morgen geworfen. Hier meine Rede