Von Sorgen und Hoffnungen

Pandemie, Lockdown, FFP-2-Masken, OP-Masken, Distanzunterricht, vulnerable Gruppen, systemrelevante Berufe, Triage  –  Worte, die mich in den letzten 30 Monaten beinahe auf Schritt und Tritt begleitet haben. Immer wieder gab es Phasen, in denen ich nachts wach wurde, das Grübeln einsetzte und ich mich fragte: „Ist alles getan? Kann noch mehr getan werden? Was sind die richtigen Entscheidungen? Und wann kehren wir zurück zu mehr Normalität?“

Aktuell verzeichnen wir in Thüringen die niedrigste Inzidenz Deutschlands. Auch in den Krankenhäusern ist das eingangs beschriebene Pandemiegeschehen zu einer alltäglichen Herausforderung geworden und ja, der Satz stimmt: „Corona zeigt nur, was vor Corona bereits falsch gelaufen ist.“ Das Jahr 2022 startete zunächst mit der Verheißung, weniger krisenanfällig zu werden. Als Bundesratspräsident freute ich mich auf einen wunderbaren 3. Oktober mit Bürgerfest, den das Team in der Staatskanzlei gerade mit Hochdruck und viel Herzblut vorbereitet. Unser Logo ist allüberall zu sehen und die Vorfreude bei Vielen zu spüren.

Über all dem schweben jetzt dicke, dunkle Wolken. Der völkerrechtswidrige Krieg Russlands gegen die Ukraine ist nicht nur für die notleidende Bevölkerung in der Ukraine eine große Herausforderung. Es ist für mich und viele andere Menschen eine bittere Erkenntnis, dass imperiale Kriege von Autokraten, die alten Großmachtfantasien nachhängen, zurück zu einer bedrückenden Normalität gefunden haben.

Unterdessen sinniert man im Umfeld des ungarischen Ministerpräsidenten Orban über die Einverleibung Transkarpatiens (eine Region in der Ukraine) ins ungarische Staatsgebiet. Um es noch einmal auf den Punkt zu bringen: ein EU-Mitglied spekuliert über die Verschiebung von Grenzen in Europa. Was hält man da für möglich? Wo hört das auf?

Zeitgleich führt der NATO-Partner Türkei einen völlig inakzeptablen Krieg gegen die Selbstverwalter in Kobane und Rojava.

Aktuell lese ich Bertha von Suttners großartiges Buch „Die Waffen nieder“ und wundere mich, wie hochaktuell es ist.

Waren es in den vergangenen zwei Jahren vor allem die aktuellen Tagesinzidenzwerte sind es nunmehr die Gasfüllstände und der Gasdruck, denen mein erster morgendlicher Blick aufs Handy gilt. Ebenfalls täglich beschäftigen wir uns in der Landesregierung – natürlich – mit dem Problem des Gasmangels. Wir verstehen, dass die Selbstverständlichkeit, mit der Energiemengen zur Verfügung standen, auf einmal unsere Achillesferse geworden ist. Politisch ist meiner Ansicht nach klar: die Weichen, die wir jetzt umstellen, hätten wir vor 10 Jahren, nach der Unterzeichnung der Pariser Klimaschutzabkommen, bereits umstellen müssen. Dezentral, regional und regenerativ – diese Formel, die wir seit Jahren in unseren Landtagswahlprogrammen als Zielstellung  formuliert haben, hätte schon damals maßgeblich für die Zukunft der Energieversorgung sein müssen! Jener Trias folgend hätten wir die Energiewirtschaft in Deutschland umbauen müssen, auch und gerade, um in der Region eigene Wertschöpfungsketten zu knüpfen.

Thüringen ist ein Bundesland ohne eigene Großkraftwerke und die kleineren, die in den Stadtwerken aufgebaut sind, drohen nun unter dem Gasmangel in die Knie zu gehen. Was aber tun wir, wenn die Stadtwerke Erfurt die Fernwärme mit dem GuD-Kraftwerk nicht mehr erhitzen können und das Gas abgestellt wird? Wie soll Fernwärme und warmes Wasser, wie soll Heizungen in Häusern, in denen es keine Kamine mehr gibt, Wärme zugeführt werden? Fragen über Fragen, auf die wir Schritt für Schritt neue Antworten geben müssen.

Zurzeit prüfen wir, wie wir einen Schutzschirm für die kommunale Wirtschaft aufspannen und Wohnungswirtschaftsunternehmen helfen können, durch die hohen Primärenergiepreise nicht in Existenzkrisen zu rutschen. Gleichzeitig muss auch den Menschen geholfen werden, die sich weder den erhöhten Benzinpreis noch die radikal gestiegenen Heizkostenpreise leisten können. Es braucht auch hier einen Schutzschirm für Menschen mit niedrigeren Einkommen und für Betriebe, die durch Versorgungsengpässe ins Schleudern geraten.

In diesem Zusammenhang haben die Vertreter unserer Partei, die in vier Ländern Regierungsverantwortung tragen, einen Maßnahmenkatalog für ein Sondervermögen vorgelegt und unsere Landespartei hat zum Thema Energiearmut eine Kampagne gestartet. In Privathaushalten Strom zu sperren oder die Heizung abzustellen ist einfach keine Option, weil jeder Mensch – egal, ob mit kleinem oder großem Einkommen – ein Recht auf warmes Wasser und eine warme Wohnung hat. Wenn das Marktgeschehen im Energiesektor keinen marktwirtschaftlichen Mechanismen mehr folgt, sondern Energie als Waffe im Kriegsgeschehen eingesetzt wird, muss der Staat den Sektor unter Staatsaufsicht stellen und die Preise direkt regulieren.

Im Besonderen treibt mich außerdem die Frage um, wie man Wirtschaftssektoren, die ausschließlich auf der Basis von Erdgas überhaupt funktionieren, durch die aktuelle Lage bringen kann. In Thüringen hängen beispielsweise 7.000 Arbeitsplätze vom Wohl der Glasindustrie ab, deren Glaswannen man nicht anhalten kann. Sie brauchen permanente Energiezufuhr. Würden die Wannen erkalten, verklumpten sie und die gesamte Industrieanlage wäre unwiederbringlich zerstört.

Zuletzt habe ich einen Porzellanbetrieb besucht, dessen Produkte nur entstehen können, wenn im so genannten Sinterungsprozess, also dem Keramikbrand, Energie über Erdgas eingespeist wird. Es sind ganz dünne Kanäle, die durchströmt werden müssen. Dieser Prozess im Brennofen kann nicht durch strombasierte Verfahren ersetzt werden.

Es braucht Planungen dafür, wie wir solch eine Industrie am Leben erhalten und gleichzeitig Krankenhäuser, Schulen und die Wohnungen der Menschen dabei nicht aus dem Blick verlieren. Hier ist ein vernetztes Denken unumgänglich.

Heute spüren wir, was es heißt, zu lange und zu sorglos mit fossiler Energie umgegangen zu sein. Vor der Inkaufnahme höherer Preise schreckte man zurück und nahm die notwendigen Investitionen für den Umbau der Energiegewinnung nicht in Angriff. Jetzt erpresst uns ein Autokrat.

Auch die Schülerinnen und Schüler von Fridays for Future haben immer wieder diese Themen auf die Tagesordnung gesetzt. Es hilft mir nur nicht weiter, darauf zu verweisen, dass ich schon seit Jahren mit dieser Forderung an die Öffentlichkeit getreten bin. Oder kurz: „Hätte, hätte, Fahrradkette“. Jetzt heißt es, mit den Sorgen der Menschen umzugehen, mit den Herausforderungen zu arbeiten und Lösungen zu finden, damit der Zusammenhalt unserer Gesellschaft auch schwere Zeiten wie die unseren übersteht. Mein Motto: „Mit klarem Kompass Kurs halten.“ Wir müssen die Energiewende drastisch beschleunigen und tatsächlich auch darauf zuarbeiten, alle uns verfügbaren Ressourcen zu nutzen.

Und ja: Strom sparen und den Gasverbrauch zu reduzieren gehört auch zu einer umfassenden Strategie zur Erlangung von Energiesouveränität.Umbauen und sparen, jeden Energieverbrauch betrachten und bei Bedarf auch den Energieberater einschalten – all das ist zweckmäßig.

Jede Maßnahme davon, die uns hilft, sorgsamer mit Energie umzugehen und auch damit das Land zusammenzuhalten, ist ein notwendiger Schritt ins Morgen, welches zu gestalten unsere Pflicht ist – und zwar nicht nur diejenige von uns Politikern, sondern auch diejenige all derer, die ihren Kindern und Kindeskindern eine lebenswerte Zukunft vererben wollen.

Auch wir haben diese Welt nur von unseren Vorfahren geerbt. Sorgen wir dafür, sie auch unseren Nachfahren lebens- und liebenswert zu überantworten.