Demokratie im Stresstest

Am Donnerstagmorgen hörte ich den Satz „Die Zukunft ist offen, im Guten wie im Schlechten“. Er bezog sich auf eine Stelle in der Bibel, in der berichtet wird, dass die Jünger fischen gegangen sind, um ein Mahl zu bereiten, aber die ganze Nacht über nichts fingen. Erst am Morgen erschien am Ufer Jesus Christus. Sie erkannten ihn nicht, der ihnen aber zuruft, sie mögen jetzt, obwohl sie auf dem Rückweg waren und eigentlich die Hoffnung schon aufgegeben hatten, doch das Netz noch einmal ins Wasser werfen. Mit großem Erstaunen hätten sie das Netz auf einmal so voll gehabt, dass sie alle Mühe hatten, den riesigen Fang ans Ufer zu bringen.

In der Predigt wurde anschließend Bonhoeffer dahingehend zitiert, dass man mit Gottvertrauen und Gebet, aber auch mit der notwendigen Geduld und dem Vertrauen darauf, dass sich die Dinge zum besseren fügen werden, auch behütet durch schwerste Zeiten kommen kann. Ich übersetze Bonhoeffers Sätze für mich so, dass man einen guten Kompass braucht, um auch in schwierigsten Phasen die Freude am Leben, die Motivation zum Gestalten und die Kraft für Veränderung nicht zu verlieren.

Die Worte dieser Andacht waren meines Wissens nach schon geschrieben, bevor die aktuelle Umfrage des MDR deutschlandweit wieder einmal Thüringen in die Schlagzeilen gebracht hat. Nach der Landratswahl in Sonneberg nun ein Umfragewert der AfD, der deutschlandweit als der höchste bisher gemessene anzusehen ist. Einen Tag zuvor hatte ich allerdings die Umfragewerte in Hessen gesehen. Dort liegt die AfD immerhin auf Platz 2. Einen Tag später folgten schließlich Umfragewerte für Mecklenburg-Vorpommern. Dort rangiert die AfD mit 29 Prozentpunkten auf Platz 1. Die regierende SPD folgt mit 2 Prozentpunkten Abstand auf Platz 2. Es gibt einen Höhenrausch bei Umfragen für die AfD und es sind jetzt auch zwei Wahlbeamte (Landrat und Bürgermeister) im hauptamtlichen Bereich mit AfD-Parteibuch gewählt worden. Die Aufregung auf der einen Seite ist mindestens so  groß wie Empörung und Jubel auf der anderen. Schnelle Erklärungsversuche kommen wie ein Stakkato aus allen Kanälen und die mediale Zeit scheint es zu erzwingen, dass die Antworten auf vermeintlich Empörendes immer kürzer werden. Die viel beschworene Brandmauer wird je nach eigener Positionierung hin und her geschoben als wenn sie Räder hätte oder ein mobiler Paravent wäre. All das Getöse hilft nur nicht weiter, denn tatsächlich ist das bislang Unsagbare sagbar geworden und das nicht Hörbare wird hörbar. Begleitumstände sind, dass wie selbstverständlich NS-Redewendungen in Reden von AfD-Funktionsträgern oder Herrn Maaßen einfließen. Vor begierigen Kameras heben andere den rechte Arm oder wünschen sich Adolf Hitler bzw. die NSDAP zurück.

Wie konnte es dazu kommen? Ich habe mich bereits in meiner Rede zum 03. Oktober im vergangenen Jahr an einer aus meiner Sicht zentralen Teilerklärung versucht. Ich denke, dass die ökonomische Einheit in den vergangenen 30 Jahren weit vorangeschritten ist. Die psychologischen Folgen des Einheitsprozesses hingegen nehmen sich zum Teil verheerend aus. Aus dem offensichtlich sehr bemüht trainierten Antifaschismus der DDR wird nun ein trotziges: „Das wird man doch mal sagen dürfen!“ bzw. ein wütender Versuch, die deutsche Geschichte einer gründlichen Revision zu unterziehen. In dieses Bild passt sodann auch, dass Björn Höcke in seinen Reden – anschließend an den „Kronjuristen“ des Dritten Reiches Carl Schmitt – die Herausdrängung „raumfremder Mächte“ aus Europa fordert und damit die USA meint. Da wird auf einmal von einer geistigen Verwandtschaft nach Russland gesprochen und negiert, dass die früheren Vertreter der sogenannten „Herrenrasse“ gerne das russische Volk als sogenannte „Untermenschen“ betrachtet haben. Da wird der Ukraine abgesprochen, überhaupt ein Staat zu sein geschweige denn eine Nation werden zu dürfen. Da wird übersehen, dass vor 33 Jahren der friedliche Übergang zwischen DDR und BRD ohne jeden militärischen Akt vollzogen wurde, aber die eingesammelten Waffen der Sowjetarmee in hohem Maße heute in Transnistrien – von russischen Truppen bewacht – in dortigen Bunkern lagern. Das Pulverfass eines zerfallenen sowjetischen Riesenreiches habe ich auch hier im Tagebuch schon mehrfach beschrieben. Alle Riesenreiche, die zerfallen, hinterlassen ein schweres Erbe. Am Beispiel des zerfallenden osmanischen Reiches kann man bei der Entstehung der türkischen Nation feststellen, wie viel Mord und Totschlag an den Armeniern oder den Pontosgriechen, den Aramäern und Kurden begangen wurde. Auch wenn die Kurden am Anfang mit dem Versprechen auf eine eigene Nation auf der Seite von Kemal Atatürk sich haben einspannen lassen. Heute erleben wir das Ende Syriens, Iraks mit militärischer Vernichtung und auf wundersame Weise erleben wir eine aggressive türkische Militärführung, aber eben auch die Wagner-Truppen, die jetzt gerade mit einem operettenhaften Auftritt die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit wiederum auf Russland gelenkt hat.

Eigentlich dieses alles immernoch Zerfallserscheinungen des sowjetischen Riesenreiches. Unter verschiedenen Aspekten kann man so auf die Sowjetunion als letztes großes Kolonialreich schauen, denn die Gleichberechtigung zwischen den Unionsstaaten, die die Sowjetunion bildeten, scheint es nie gegeben zu haben oder diese Gleichberechtigung war nie etwas wert. Grenzen werden verschoben, militärische Schläge zur Normalität und selbst vor Terror und Gewalt wurde in all den letzten 30 Jahren kein Halt gemacht. Tschetschenien lässt grüßen.

Wie sehr haben wir uns daran gewöhnt, dass die Deutsche Einheit vor 33 Jahren als staatlicher Prozess friedlich und ohne militärische Gewalt vollzogen wurde. Zu den Begleiterscheinungen gehört jedoch auch, dass eine gemeinsame Nationsbildung eines nicht nur formal vereinten Staates emotional nicht angegangen wurde. Ich habe immer wieder darauf hingewiesen, für welchen Fehler ich es halte, dass wir uns die Mühe eines gemeinsamen verfassungsgebenden Prozesses erspart haben. Selbst den Wunsch des Runden Tisches der DDR, eine gemeinsame und wirklich gemeinsame Nationalhymne zu verankern, damit man sie mit Freude auch singen kann, wurde genauso schnell vom Tisch gewischt.

Als Westdeutscher habe ich kein Problem damit, die dritte Strophe des Deutschlandliedes zu singen und tue dies auch, denn es sind sehr schöne Visionen, die in dieser dritten Strophe verankert sind. Aber ich respektiere auch diejenigen Menschen, die sagen, diese Nationalhymne ist auch in Westdeutschland immer nur ein Kompromiss gewesen und nicht unbedingt aus der großen Freude einer Nationsbildung entstanden. Immer wenn ich solche Sätze formuliert habe, wurde ich gescholten. Ich würde unsere Nationalhymne verächtlich usw. Heute weiß ich aber – und da bleibe ich konsequent – dass auch die positive emotionale Einbettung der Deutschen Einheit nur gelingen wird, wenn wir den inneren Wachstumsprozess einer gemeinsamen Nation jenseits von Ost und West denken, durchdringen, fühlen und auch leben können.

Die alte Bundesrepublik Deutschland, die eine sehr auf Frankreich zentrierte Perspektive hatte, ist eben nicht einfach nur vergrößert worden um ein „Beitrittsgebiet“. Diese Schwierigkeit habe ich auch gespürt als ich in meiner Zeit als Bundesratspräsident in Rumänien und insbesondere in Polen auf Reisen war. Europa als neue Vision aus dem Blickwinkel Osteuropas zu denken und zu fühlen und damit auch Deutschland als Transformationsland und als Motor dieses neuen größeren Europas zu betreiben und zu betrachten, darin sehe ich unsere Aufgabe. Insoweit war die Initiative von Außenminister Genscher, die zur Gründung des Weimarer Dreiecks führte, ein so wichtiges Element. Ich halte es auch für notwendig, Europa aus der gleichberechtigten Perspektive aus Warschau, Paris und Berlin zusammenhängend zu denken. Und das bedeutet, sich auch mit komplexen  Themen auseinanderzusetzen und Sichtweisen zu akzeptieren, die uns nicht unmittelbar eingängig erscheinen. Der Zerfall der Sowjetunion darf nicht das Fundament bilden, auf dem bitterer Nationalismus kombiniert mit imperialen und militaristischen Elementen wächst.

Die Brutalisierung, die im Krieg, den die russische Armee gegen die Ukraine tagtäglich praktiziert, angewandt wird, darf nicht zu einer Normalisierung führen, bei der wir übersehen, wer heute alles mit der Friedenstaube in der Hand herumspaziert und trotzdem eine Pro-Putin-Agenda propagiert. Putin steht stellvertretend für eine diktatorische militaristische und brutale Form der Herrschaftsanwendung. Hier schließt sich der Kreis zu Ideologien, bei denen auf einmal der vermeintlich Stärkere den Ton angibt und damit das Völkerrecht endgültig zertreten wird.

Die Frage, die wir uns heute stellen müssen, ist die, ob das Recht des Stärkeren oder die Stärke des Rechts der Maßstab unseres Handelns ist. Deswegen musste ich in der Andacht über den Satz „Die Zukunft ist offen“ so intensiv nachdenken. Wenn ich also die beigefügte Umfrage des MDR sehe, sehe ich zwei Dinge. Einmal eine klare Botschaft von Wählerinnen und Wählern, die sagen, über unsere Bereitschaft, das Kreuz bei der AfD zu machen, senden wir eine Botschaft an die ganze Bundesrepublik. Wenn gleichzeitig in derselben Umfrage Herr Kemmerich auf Platz 2 der Beliebtheitsgala kommt und mit 21 Prozent gewertet wird, seine eigene Partei FDP aber nur mit 4 Prozent nicht einmal in den Landtag kommt, zeigt es doch eine Paradoxie und wenn eben die AfD bei 34 Prozent liegt, aber Herr Höcke nur mit 19 Prozent positiv gewertet wird, scheint es mir doch sehr seltsam zu sein, wenn Wählerinnen und Wähler der AfD offensichtlich Herrn Höcke gar nicht als Person wählen würden. Hier muss man immer wieder deutlich sagen, wer AfD in Thüringen wählt wird den Spitzenkandidaten Herrn Höcke auch bekommen, unabhängig davon, ob er ihn mag oder nicht. Und umgekehrt ist mein Persönlichkeitswert immer noch mit 51 Prozent mit Abstand der höchste Wert im Positiv-Ranking, auch wenn meine Partei bei 20 Prozent über die Ziellinie gehen würde. Hier wird deutlich, dass es um Emotionalisierung geht und dass auch die Personalisierung einen Beitrag dazu leisten wird, wie man in Wahlkämpfe geht.

Was hingegen nicht weiterhilft, sind Schuldzuweisungen, Fingerzeige, abwertende Bemerkungen und der Versuch, das Phänomen des Umfrageerfolgs der AfD ausschließlich nach Ostdeutschland zu entsorgen. Das wird schiefgehen, denn es wird uns nicht näher zusammenbringen, sondern lediglich weiter auseinandertreiben. Deutschland Ost und Deutschland West sind wirtschaftlich gut aufgestellte Teile eines Ganzen. Daimler in Stuttgart bekommt seine Motoren aus Thüringen und BMW bekommt für all seine Autofabriken die Werkzeuge aus dem Werkzeugbau in Eisenach. Stellantis, der Weltkonzern, hat mit OPEL Eisenach einen der großen Produktionsplayer, wenn es jetzt um die nächste Generation im Automobilbau geht. Ja, und selbst eine große Supermarktkette bekommt aus dem größten Pizzaofen Deutschlands in Apolda seine Fertigpizzen und auch die Prinzenrolle, die in Westdeutschland immer schon sehr beliebt war, hat ihren Ausgangspunkt in Kahla in der modernsten Keksfabrik, die wir in Deutschland haben. Grisson-DeBeukelaer produziert Millionen von Keksen jeden Tag – in Summe 80.000 Tonnen hochwertigster Keksproduktion bei einem Gesamtinvestment von 340 Millionen Euro.

Wenn in Magdeburg das neue INTEL-Werk entsteht, vermute ich, wird die Firma ASML in Eindhoven einer der großen Lieferanten sein, aber man kann zwingend davon ausgehen, dass 100 Prozent der Schlüsseltechnik in diesen Anlagen aus Jena kommt. 90 Weltmarktführer und Technologieführer in Thüringen zeigen, dass unser kleines aber feines Bundesland seinen wirtschaftlichen Erfolg tagtäglich beweist. Nationen, die sich mit unseren Zahlen auseinandersetzen, sind erstaunt, wie man es in einer solchen Region in nicht einmal 30 Jahren geschafft hat, sich einen solch starken Platz in der Mitte Europas wirtschaftlich erkämpft zu haben. Einen Teil der geistigen Nation bilden wir mit Goethe, Schiller, Wieland, Herder sowieso ab und dass die deutsche Sprache von Martin Luther als Schriftsprache auf der Wartburg kreiert wurde und Konrad Duden in Schleiz dazu noch die Rechtschreibung entwickelt hat, macht doch deutlich, welche Bedeutung Thüringen für die gesamte deutsche Nation kulturhistorisch und heute auch wirtschaftlich darstellt.

Beides zusammenzuführen, die historische Herkunft plus die Transformationsleistung der Menschen, die jetzt tagtäglich den Laden am Laufen halten, muss unser vortrefflichstes Ziel sein. Es wäre schön, wenn wir dies als gesamtdeutsche Aufgabe anpacken würden. Ich glaube, dass dann der Höhenflug der Partei von Herrn Höcke, die sich nicht nur die 50er- und 60er-Jahre, sondern an mancher Stelle auch in die 30er-Jahre zurückmöchte, effektiv beenden könnten.